Kapitel 4

336 31 0
                                    

~Cleo

,,Wie läuft der Unterricht, Cleophea?" Von ihrem Schreibtisch aus sah Estelle zu mir hoch. Als ich vorhin über den Campus gelaufen war, hatte mir einer ihrer schwarzgekleideten Handlanger aufgetragen, Estelles Büro aufzusuchen. Jetzt saß ich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch und fühlte mich, als hätte ich etwas verbrochen, obwohl sie augenscheinlich nur reden wollte. Gegen die Fensterscheibe klatschten Regentropfen und draußen blitzte und donnerte es. Hoffentlich wollte Estelle viel mit mir besprechen, ich hatte absolut keine Lust, bei dem Wetter zurück in mein Zimmer zu laufen.

,,Ich kann mittlerweile ganz gut mithalten, glaube ich", antwortete ich. ,,Also falls du das Nachmittagstraining mit Seth streichen möchtest..." Ich warf ihr meinen besten Hundeblick zu, aber Estelle war leider ziemlich unbestechlich und immun gegen Hundeblicke jeglicher Art. Ein kurzes Grinsen huschte über das Gesicht der Rektorin, aber sie schüttelte den Kopf. ,,Ich verstehe dein Anliegen, aber wenn du weiterhin gegen Vasanisten kämpfst, reicht der Unterricht alleine nicht aus." Klang einleuchtend, ein paar mehr freie Stunden am Tag wären mir trotzdem nicht unrecht gewesen. Immerhin schien Seth in letzter Zeit genug mit sich selbst beschäftigt zu sein, um das Nachmittagstraining in den meisten Fällen abzusagen, aber das musste Estelle ja nicht wissen. ,,Schade", erwiderte ich.

,,Aber Cleophea- " Estelle sah mir nun in die Augen. ,,Wenn es dir irgendwann zu viel wird oder du verletzt bist, musst du es mich wissen lassen. Du leistest mehr als andere Schüler und angesichts der Tatsache, dass du noch nicht so lange hier bist, wird jeder Verständnis dafür haben." Jeder außer Seth vermutlich, der anscheinend nach wie vor der Meinung war, dass ich eine Art Superjoker war. Als hätte Estelle meine Gedanken gelesen fügte sie hinzu: ,,Auch Seth."

,,Es ist okay", erwiderte ich. ,,Seth passt auf mich auf... oder so." Und wenn ihm langweilig war, tötete er mit mir händchenhaltend Vasanisten. Ich war mir sicher, dass wir uns mittlerweile einen Platz in einem grausam-kitschigen Fantasybuch verdient hätten. Apropos kitschiges Fantasybuch- wenn ich schon hier war, konnte ich Estelle gleich noch nach dem Wikinger fragen. Seit dieser Typ gegen mich gelaufen war, rätselte ich fast ununterbrochen wer -oder was- er war.

,,Estelle?"

Die Internatsleiterin hob den Blick. ,,Ja?"

,,Ich hätte da mal eine Frage. Letztens-" Ich kam allerdings nicht mehr dazu, Estelle zu erzählen, was letztens gewesen war, da in diesem Moment die Tür aufgerissen wurde und eine schwarz gekleidete Person den Raum betrat. Seth. Er sah aus, als wäre er in einen See gesprungen; seine Kleidung klebte nass an seiner Haut und unter seinen Stiefeln sammelte sich das Wasser. Mit einer Hand schob er sich die nassen Haare über die Schulter zurück, dann sah er zu Estelle. ,,Es gibt da etwas, was du wissen musst." Interessanter Auftritt. Etwas verwirrt sah ich zwischen Estelle und Seth hin und her. ,,Äh... Soll ich gehen oder so?"

Seth sah mich einen Moment aus dem Konzept gebracht an, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass ich mich ebenfalls in diesem Raum befand, dann schüttelte er den Kopf. ,,Brauchst du nicht." Seth jagte mich nicht aus dem Raum, obwohl er etwas extrem Wichtiges mit Estelle zu besprechen hatte? Eigenartig. Estelle betrachtete unterdessen den nassen Fußboden, als würde ihr dieser Anblick körperliche Schmerzen zufügen. ,,Was gibt's Seth?" 

Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Muskeln spannten sich an. Er sah kurz zur Seite, als erwartete er einen hilfreichen Tipp von Estelles Wandgemälde, dann aber sah er erstaunlich gefasst aus. Schien ein hilfsbereites Wandgemälde zu sein.

,,Ich bin ein Gott."

Er war was? Ich wartete darauf, dass Seth lachte und erklärte, dass er gerade eine Wahrheit-oder-Pflicht Aufgabe erfüllte, doch nichts dergleichen geschah. Estelle sah Seth ähnlich ungläubig an und sagte nichts. Für ein paar Sekunden herrschte Stille in dem Büro, man hörte nur die Regentropfen, die unablässig gegen die Fensterscheibe prasselten.

,,Wie hast du das herausgefunden?", brach Estelle schließlich das Schweigen, während ich Seth immer noch schweigend anstarrte, als hätte er soeben die Farbe gewechselt.

,,Ich hab mich ausversehen nach Deutschland gebeamt", antwortete er. Gebeamt? Oh Götter. Mein Blick glitt ein weiteres Mal über Seth, aber er sah aus wie er selbst. Wie der Seth, den ich seit Monaten kannte. Nicht als wäre er plötzlich über Nacht ein Gott geworden.
Estelle rieb sich mit den Händen über die Schläfen, als hätte sie plötzlich furchtbare Kopfschmerzen bekommen. ,,Das erklärt so einiges."
Für mich erklärte das überhaupt nichts. Seth hatte einen Gott als Vater und eine sterbliche Mutter. Wie konnte er also ein Gott sein- ein Ganzer? In Bio hatte ich das damals anders gelernt.  ,,Wie kann das sein?", warf ich schließlich ein, als ich meine Sprache wieder gefunden hatte.

Seth lächelte, sah dabei aber aus, als würde er jemanden töten wollen. ,,Ich bin ein Fehler im System. Der dreizehnte Gott." Er lachte leise. ,,Das ist irgendwie so typisch. Ich bin ein Gott und meine Zahl ist eine Pechzahl." Dann verschwand er plötzlich einfach, nur um eine halbe Sekunde später plötzlich wieder hinter Estelle aufzutauchen. Ach du heilige... Seth stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab und wirkte plötzlich unglaublich erschöpft. Estelle seufzte und betrachtete Seth mit erstaunlicher Fassung. ,,Bis vor einer Sekunde hatte ich noch gehofft, du würdest einen schlechten Scherz machen."
Das... das hatte ich irgendwie auch gehofft. Ich richtete meinen Blick auf Seth und sah wie hypnotisiert dabei zu, wie sich Wassertropfen aus seinen Haarspitzen lösten und auf die Papiere auf Estelles Schreibtisch fielen. Als er das merkte, richtete er sich mühsam auf und trat einen Schritt zurück. ,,Ich bin zwar größenwahnsinnig", antwortete er, ,,aber nicht größenwahnsinnig genug, um euch solchen Schwachsinn zu erzählen." Er schüttelte den Kopf, als würde ihm erst jetzt wieder bewusst werden, dass dieser 'Schwachsinn' die reine Wahrheit war. Seth war ein Gott. Er war wirklich ein echter, lebendiger Gott. Ein Gott wie Artemis. Wenn er wollte, könnte er den gesamten Campus dem Erdboden gleich machen. Er könnte alles tun. Ich hatte Seth als Halbgott an manchen Tagen schon furchteinflößend gefunden, aber als Gott? Mit nahezu unbegrenzten Kräften? Gerade wirkte er allerdings überhaupt nicht wie eine überstarke, unmenschliche Präsenz. Er sah erschöpft aus, kraftlos, als wäre das Alles einfach zu viel für ihn. Trotzdem bewunderte ich ihn dafür, dass er damit zurecht kam. Ich wäre vermutlich schon längst vollkommen durchgedreht.
Nervös spielte Seth an den Bändern seines Hoodies herum und ließ seine Fingerknochen knacken. Langsam und extra laut, aber so aufgewühlt, wie er wirkte, konnte ich darüber hinwegsehen. ,,Das wollte ich euch sagen. Kommt bloß nicht auf die Idee, mich jetzt als jemand anderes zu sehen."

,,Wir würden niemals etwas Anderes als das dunkelschwarz gekleidete Problemkind in dir sehen, Seth", erwiderte Estelle trocken.
Ein schwaches Grinsen umspielte Seths Mundwinkel, als er uns zunickte und schließlich den Raum verließ.

Estelle seufzte und ließ den Kopf in die Hände sinken. ,,Was hab ich mir nur eingebrockt, als ich diesen Halbgott hier aufgenommen habe...?"

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt