Kapitel 1.5

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~Seth

Ehrlich gesagt wollte ich nicht wissen, welchen Gesichtsausdruck ich gerade angenommen hatte. Vermutlich sah ich aus wie ein Mensch, der nach zwanzig Jahren Koma das erste Mal ein Smartphone sah. Und das wäre noch untertrieben.
Das... das war unmöglich. Aber ich war mir sicher- sie war es. Der Papagei, den Hades mir hatte zukommen lassen, als ich noch ein Kind gewesen war, den Damian getötet hatte und der nun anscheinend wiedergeboren worden war. Diese aufgeplusterte Gelbwangenamazone hätte ich vermutlich in einem Gehege mit hundert Artgenossen wieder erkannt.

Der grüne Vogel rappelte sich langsam auf und starrte mich einen Moment desorientiert an. Dann schlug sie aufgeregt mit den Flügeln. ,,Seff?", krächzte sie. Jepp, das war Skotádi. Das war sie wirklich. Hades hatte mir Skotádi zurück gegeben. Das... das war unglaublich. Ich konnte es einfach nicht fassen. ,,Danke", flüsterte ich, wohlwissend, dass Hades, der alte Stalker, mich vermutlich hören konnte. Ich kniete mich auf den Boden und hielt dem Papagei meine Hand hin. Zögerlich kam Skotádi näher und stupste mit dem Schnabel zunächst meine Hand an, bis sie schließlich zu dem Entschluss kam, dass ich es wirklich war und auf meinen Finger sprang. Von dort aus kletterte sie im Eiltempo meinen Arm hinauf, bis sie schließlich auf meiner Schulter angekommen war. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, wieder das Gewicht eines... dieses Vogels auf meiner Schulter zu spüren. Götter, wie sehr ich dieses kleine grüne Mistviech vermisst hatte. Skotádi drückte den Kopf gegen meinen Hals und schloss die Augen. Versuchte sie gerade, mit mir zu kuscheln? Oh Götter, das war zu viel für mich. Alles. Ich hob die Hand und streichelt sie am Kopf. ,,Ich hab dich auch vermisst, Sko. Ich hab dich auch vermisst."
Mit Skotádi auf meiner Schulter, ließ ich mich aufs Bett fallen und den Kopf in meine Hände sinken. Das war alles so verkorkst. Ich hatte meinen Vater kennengelernt. Nach götterverdammten neunzehn Jahren hatte ich meinen Vater kennengelernt. Und ich hatte nicht mal versucht, ihn umzubringen. Das überraschte mich irgendwie. Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich es mal schaffen würde, mit dem Mann, den ich mein ganzes Leben gehasst und verabscheut hatte, ein einigermaßen zivilisiertes Gespräch zu führen. Hieß das, dass ich erwachsen wurde oder hieß es, dass ich doch so etwas wie Gefühle besaß?
Eigentlich könnte ich auf beide Dinge gut verzichten.
Die Tatsache, dass nicht einmal die Götter wussten, zu welcher Art Freak ich mutiert war, bereitete mir außerdem ebenfalls Sorgen. Langsam aber sicher verlor ich mein letztes bisschen Respekt vor ihnen. Bisher war ich nämlich immer davon ausgegangen, dass Götter wenigstens im Großen und Ganzen wussten, was auf der Welt vor sich ging. Ich seufzte. ,,Ach Sko, was mache ich jetzt nur?" Als ich den Kopf in ihre Richtung drehte, sah sie mich an und zwinkerte. Sie schien ebenfalls keine Antwort auf meine Fragen zu wissen. Mist. Stattdessen fing sie an, an meinem Ohr herumzuknabbern. Ich hatte schon wieder ganz vergessen, wie schnell ihr langweilig wurde.  ,,Danke, aber ich möchte keine Ohrlöcher", sagte ich und schob ihren Kopf zur Seite.
,,Hunger!", beschwerte sie sich daraufhin. Ach, na dann konnte sie natürlich mein Ohr weiter fressen...
Ich sah sie an und zog die Augenbrauen hoch. ,,Ist das dein Ernst? Du wandelst seit ungefähr fünf Minuten wieder auf der Erde und das Erste, was dir dazu einfällt, ist Hunger?" Sko nickte nachdrücklich. Ich schüttelte den Kopf, meine Mundwinkel hoben sich allerdings ganz automatisch. Kleiner, durchgeknallter Vogel. Ich erhob mich und begab mich zu dem Schrank, in dem ich Essen bunkerte. Zwischen unzähligen Chipstüten, Bierflaschen und Kekspackungen zog ich eine Packung Stufentenfutter heraus. Ich öffnete sie, nahm mir einen Cashew-Kern heraus und hielt Skotádi anschließend die Tüte hin. ,,Die Cashews gehören mir", warnte ich sie. Daraufhin nickte Skotádi wieder eifrig- und zog sich einen Cashew Kern heraus.
Ich verzog das Gesicht. ,,Nicht sehr nett, Sko." Und natürlich krümmelte sie mir dann auch noch Cashews auf die Schulter.

Wo war ich noch gleich stehen geblieben? Richtig. Götter waren doof und ahnungslos und ungefähr so hilfreich wie Nordstream 2 im Kampf gegen den Klimawandel. Wenn ich von den Göttern keine Antwort erhielt, durfte ich mich also entweder weiterhin im Selbstmitleid suhlen, oder mich auf die Suche nach diesem Seher machen. Allerdings fragte ich mich langsam, ob ich überhaupt wissen wollte, zu welchem Wesen ich mutiert war. Angestrengt kaute ich auf einer Walnuss herum, während Skotádi mir noch immer die Cashew Kerne klaute. Das war so typisch. Vielleicht hätte ich ihr lieber sagen sollen, dass sie Paranüsse auf keinen Fall anrühren sollte. Gedankenverloren starrte ich ein Star Wars Poster an. Scheiß auf die Götter. Scheiß auf die Rebellion. Ich würde mir heute mal einen Abend frei nehmen. Vielleicht war das eine gute Idee, um meine Gedanken ein wenig zu sortieren.
Ich erhob mich vom Bett und warf die leere Tüte auf dem Weg zur Tür in den Mülleimer.
Als ich durch den Gang lief, kam mir eine Gruppe von Schülern entgegen, die mich anstarrten, als wäre ich das fliegende Spaghettimonster. Ich war mir nicht sicher, ob es an meinen neu erlangten Superkräften oder dem Papagei auf meiner Schulter lag. Möglicherweise war die Ursache auch ganz einfach meine ausgeprägte Genialität.
Einige Minuten später stand ich schließlich vor Cleos Zimmertür. Ich streckte den Arm aus und klopfte an.

Cleophea Moreland, Tochter der Schicksalsgöttin Tyche und der rothaarigste Ginger, den ich kannte, öffnete mir höchstpersönlich die Tür.  ,,Seth", sagte sie und klang dabei so begeistert, als wollte ich ihr eine Versicherung an der Haustür aufschwatzen, ,,ist es nicht noch ein bisschen früh, um draußen Heldentaten zu vollbringen?" Mir fiel erst jetzt auf, wie schläfrig sie wirkte. Ihre silbergrünen Augen waren nur halb geöffnet, die Haare zerzaust und ihre Kleidung zerknittert. Cleo schien ebenfalls einen freien Abend gebrauchen zu können.
Langsam hob sie den Kopf und starrte mich an- oder viel eher das grüne Wesen, das es sich auf meiner Schulter bequem gemacht hatte. Ihre Augen weiteten sich. ,,Götter. Ist das...?"

,,Zombie-Skotádi? Jepp."

Fasziniert sah sie den grünen Vogel an. ,,Oha. Das freut mich für dich, Seth, wirklich. Aber... wie ist das möglich?"

Ich hob den Arm und strich über Skotádis Kopf. ,,Lange Geschichte. Jedenfalls bin ich hier, um dir zu sagen, dass du heute Abend nicht das Internat bewachen musst. Ich hab für heute Urlaub eingetragen." Wahlweise bauten wir Überstunden ab. Cleos Beschäftigung war eigentlich ohnehin illegale Kinderarbeit und ich arbeitete schon genug. Da würde man uns einen freien Tag wohl kaum verwehren.

Ungläubig sah sie mich an. ,,Du gibst mir frei? Wow. Dafür würde ich dich sogar fast umarmen."

Grimmig lächelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust. ,,Wenn du das tust, ist dieses Angebot nichtig."

,,Keine Sorge, Seth, ich werde nicht in Versuchung kommen." Ihr Blick wanderte wieder zu Skotádi. ,,Kann man die streicheln?"
Ich hob die Schultern, woraufhin Skotádi augenblicklich einen beleidigten Laut von sich gab. ,,Tagesformabhängig.  Wenn sie den Schnabel aufreißt, würde ich die Finger wegziehen."

,,Danke für diesen hilfreichen Tipp", erwiderte Cleo augenrollend, während sie näher kam und die Hand ausstreckte. Eindeutig überfordert sah Skotádi sie an, versuchte aber zu meiner Verwunderung nicht, Cleo zu beißen. Als Cleo ihr über den Kopf strich, gab sie sogar ein wohliges Geräusch von sich und stellte die Federn auf. Interessant.
In diesem Moment kam mir ein spontaner Gedanke.

,,Ach, Hexe", sagte ich beiläufig und ließ die Arme sinken, ,,trinkst du eigentlich Bier?"

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt