Kapitel 9.2

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~Seth

Als ich sah, wie Cleo meine Wohnung verließ und die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fragte ich mich das erste Mal, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte mich dafür entschieden, dieses Leben hinter mir zu lassen. Die Seele der ersten Schülerin hatte ich gebraucht. Mein Körper hatte danach geschrien, es ging nicht anders. Aber die danach? Das hatte ich bewusst getan. Weil ich es wollte. Das war der Zeitpunkt gewesen, zu dem ich entschieden hatte, dass ich nicht länger auf dieser Seite kämpfen wollte. Ich setzte mich aufs Bett und ließ den Kopf in die Hände sinken. Ich wollte dem Rat nicht länger dienen. Ich wollte den Göttern nicht länger dienen. Das alles hinter mir zu lassen, fiel mir schwerer als ich gedacht hatte. Wegen Cleo. Wegen Cat. Aber ich hatte mich entschieden. Jetzt gab es kein zurück mehr. Ich war schuld daran, dass Matt gestorben war. Ich hätte ihn retten können, wenn ich früher akzeptiert hätte, dass ich nicht in dieses System gehörte.

Du hast mehr von einem Rebellen an dir, als du denkst. Ich wusste nicht, ob ich ein Rebell war. Aber ich wusste, dass ich hier nicht mehr hingehörte. Ich wusste, dass ich Rache an den Göttern wollte. Es mochte falsch sein, sie für alles zu verurteilen, aber das war mir in diesem Moment egal. Sie hatten Angst vor mir? Dann würde ich ihnen einen Grund geben, dass sich das auch lohnte. Ich hob den Kopf und stand auf. Es war an der Zeit zu gehen, aber es gab noch einige Dinge, die ich vorher erledigen musste. Ich lief zu Skotádis Käfig und öffnete das Türchen. ,,Es tut mir leid", sagte ich zu ihr. ,,Ich hole dich, sobald ich kann. Versprochen." Sko flog auf meine Schulter und drückte den Kopf gegen meinen Hals. Kurz ließ ich mich darauf ein und streichelte ihr über den Kopf, dann aber schubste ich sie sanft von meiner Schulter. ,,Ich werde dich holen, Sko", widerholte ich. Sie gab ein wehleidiges Geräusch von sich, flog dann aber zurück in den Käfig. Ich atmete tief durch, dann stellte ich mir Estelles Büro vor. Es dauerte einen Moment, dann riss es mir den Boden unter den Füßen weg und ich stand Bruchteile einer Sekunde später vor Estelles Schreibtisch. Ich wusste nicht einmal, warum genau ich das tat. Vermutlich um mich zu verabschieden, weil Estelle immer in Ordnung gewesen war.

Estelle zuckte zusammen, als sie mich sah. Das erste mal, seit ich sie getroffen hatte, erkannte ich Angst in ihrem Blick. Sie sprang auf und hielt plötzlich einen Dolch in der Hand. Sie wusste genauso gut wie ich, dass sie damit nichts anrichten konnte, aber die Geste kam an. Ich ließ mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen, wie ich es tausende Male getan hatte und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Guten Tag, Estelle. Schönes Wetter heute."

,,Seth." Sie umklammerte den Dolch so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß durch die Haut schienen. ,,Warum?", fragte sie nur.

Ich lehnte mich nach vorne. ,,Die Welt lässt sich nicht nur in schwarz und weiß einteilen." Mein Blick fiel auf den Dolch. ,,Ich habe hunderte Vasanisten für euch getötet, weil ich es nie hinterfragt habe. Als Dank dafür würdet ihr mich jetzt töten."

,,Seth, wir hätten niemals-"

Ich ballte die Hand zur Faust. ,,Bullshit", fauchte ich. ,,Der einzige Grund, weshalb ich noch lebe ist, dass die Götter Schiss vor mir haben und der Rat nicht wusste, was ich bin."

Estelle zuckte merklich zusammen. Es war seltsam. Sie hatte mich immer respektiert, aber sie hatte nie... Angst vor mir gehabt. ,,Warum bist du hier?", fragte sie und sah mir in die Augen.

,,Um auf Wiedersehen zu sagen, glaube ich."

,,Werden wir uns wiedersehen?" Sie legte den Dolch betont langsam zur Seite.

,,Ich bin mir sicher, dass wir das werden." Ich stand auf und ließ einen Wirbel knacken. ,,Pfeif deine Leute zurück. Ich will niemanden verletzen, aber ich werde es tun, wenn sie mir zu nahe kommen."

,,Ich werde einen Teufel tun." Ihre Hände öffneten und schlossen sich, es wirkte, als versuchte sie das Element unter Kontrolle zu halten. ,,Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, was du tust."

Das war ich nicht. Ich wusste nicht, was auf mich zukam. Ich wusste nur, dass ich von hier weg musste. ,,Ich glaube nicht, dass es eine richtige Seite gibt", antwortete ich schließlich. ,,Aber ich bin lange hier gewesen, warum nicht mal etwas Neues ausprobieren?"

Estelle atmete tief durch. ,,Nicht lustig."

,,Schade." Ich nickte ihr zu. ,,Wir sehen uns." Dann schloss ich die Augen und es riss mir erneut den Boden unter den Füßen weg. Ein Gefühl, als würde man am höchsten Punkt einer Achterbahn in die Tiefe brettern. Allmählich gewöhnte ich mich daran. Als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich das Gebäude des Gefängnisses vor mir. Vielleicht musste ich noch etwas üben, eigentlich hatte ich mich direkt hinein beamen wollen. Bevor ich geistig und körperlich vollkommen angekommen war, erblickte ich spitze Geschosse aus glänzendem Eis, die direkt auf mich zurasten. Der Wachposten. Instinktiv riss ich den Arm hoch und schleuderte sie mit dem Luftelement zur Seite. Estelle musste wirklich die kompletten Wachen angefunkt haben. Das hätte sie besser gelassen. ,,Tut mir leid, Kumpel. Ist nichts persönliches." Ich musste mich kaum anstrengen. Ein Gedanke und eine kurze Handbewegung genügten, um ihn gegen die Wand zu schleudern. Er ging zu Boden wie ein Sack Kartoffeln. Mit schnellen Schritten ging ich weiter. Es kam mir vor, als wäre ich in einem 'Escape'-Spiel gelandet, in dem man aus einem Gebäude voller Zombies fliehen musste- nur dass ich der Zombie war. Was tat ich hier eigentlich?

Ich schob den Gedanken zur Seite. Nachdenken konnte ich auch noch, wenn ich hier raus war. Ich näherte mich dem Ende des Ganges und kam vor der letzten Zelle zum Stehen.

,,Hadessohn." Lysanna richtete sich auf und starrte mich aus eisblauen Augen an. ,,Ich habe mich schon gefragt, ob du unsere beste Feindschaft beendet hast."

Ich lächelte angespannt. ,,Nichts läge mir ferner. Ich würde gerne plaudern, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit."

Sie zog eine Augenbraue hoch. ,,Haben wir nicht? Rennen uns die Kellerasseln davon?"

Konzentriert musterte ich eine Kellerassel, die in diesem Moment vor meinen Stiefeln über den Boden krabbelte. ,,Du bist doch eine Rebellin, oder?"

Skeptisch sah sie mich an. ,,Mit Herz und Seele", bestätigte sie.

Ich hob die Hände und ließ meine Fingerknochen knacken. ,,Mir sagte jemand, dass ihr dort ungeliebte Kinder aufnehmt."

,,Ja, aber-" Sie riss die Augen auf. Ich sah förmlich, wie sich in ihrem Hirn die Zahnräder zusammensetzen. ,,Du. Du bist..."

Ich neigte den Kopf zur Seite. ,,...ein ungeliebtes, für vogelfrei erklärtes Kind auf der Suche nach einem neuen Zuhause? Exakt."

Lysannas Blick wanderte über mich. Er glitt von meinen Stiefelspitzen über mein T-Shirt bis zum Haaransatz und wieder zurück. ,,Im Ernst?"

,,Du könntest den Typen vor der Tür fragen, der eben noch versucht hat, mich umzubringen." Ich runzelte die Stirn. ,,Also, eigentlich kannst du ihn nicht fragen, weil er ein bisschen ohnmächtig ist. Aber ja."

Als sie mich noch immer misstrauisch musterte, seufzte ich. ,,Hör zu. Ich hole dich hier raus. Ich kann dich nach Hause bringen. Aber dafür musst du mir jetzt vertrauen."

Sie lachte ungläubig. ,,Bist du wahnsinnig?"

Ich hob einen Mundwinkel. ,,Schuldig im Sinne der Anklage." Sie hatte recht. Ich war vollkommen übergeschnappt. Aber ich war bereit. Und ich wollte sie irgendwie dabeihaben. ,,Du kannst bei Kellerassel Karl bleiben oder du kannst mitkommen. Deine Entscheidung."

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Als sie antwortete, bildete ich mir ein, einen flehenden Unterton in ihrer Stimme zu hören. ,,Hol mich hier raus." Unsere Blicke trafen sich. ,,Aber ich schwöre bei diesem Zeichen; wenn das ein Trick ist, werde ich dich umbringen." Das Tattoo auf ihrem Arm schimmerte zustimmend.

Ich rollte mit den Augen. ,,Stell dich hinten an." Plötzlich hörte ich Schritte. Schnelle, schwere Schritte, die durch das Gefängnis hallten und meinen Puls hochschnellen ließen. Als ich mich umdrehte, traf mein Blick auf ein bernsteinfarbenes Augenpaar. Lederrüstung, geflochtenes Haar, tätowierte Runen - ich hatte ihn noch nicht oft gesehen, dennoch war es nicht schwer zu erraten, wen ich vor mir stehen hatte. Mein göttergesandter Babysitter, Gaias Abkömmlinge, der Wikinger. Er hielt eine überdimensional große Axt in der Hand und musterte mich so gelassen, dass ich unwillkürlich die Hand zur Faust ballte.

,,Und so ist der Tag gekommen, Sohn von Hades."


Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt