Kapitel 1

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~Cleo

Ich würde Seth liebend gerne auf den Mond schießen.

Ein spontaner Gedanke, den ich irgendwo zwischen Vasanistenblut und rotem Feuer traf. Im Ernst. Seth war wohl der einzige Mensch - nun ja, das einzige ansatzweise humanoide Wesen-, der dazu in der Lage war, einem Trainingsanweisungen zu geben, während er einen oder zwei Vasanisten tötete. Vielleicht auch drei. Aber weil ihm das viel zu langweilig war, beschwerte er sich währenddessen noch darüber, dass meine Tritte zu langsam waren. Oder alternativ darüber, dass ich schon ungefähr fünf Mal gestorben wäre, wäre er nicht hier gewesen.
Dabei war das Bullshit. Es wären vier mal gewesen.

Ich blockierte den Schlag eines Vasanisten, der ungefähr drei Köpfe größer als ich war, sprang zur Seite und holte zu einem Gegenangriff aus. Der Vasanist allerdings ahnte, was ich vorhatte und schaffte es, mir die Beine unter dem Körper wegzutreten. Auf diesen billigen Trick fiel ich ständig wieder herein. Während ich fiel, blickte ich kurz zu Seth, der gerade ebenfalls in einen Kampf verwickelt war. Mist.
Ich fing mich ab, sprang aber nicht wieder auf, sondern blieb am Boden. Der Vasanist ließ sich neben mir nieder, wollte sich über mich beugen, vermutlich um mich zu beißen und mir die Seele aus dem Leib zu schlürfen.
Dazu kam er nicht. Sobald er mir nah genug war, streckte ich die Hand nach seinem Brustkorb aus und er erstarrte. Ich -oder zumindest mein Körper- ebenfalls. Die Szene, die ich eben noch gesehen hatte, verschwand, stattdessen erblickte ich schwarze Leere- durchzogen von roten, eigenartig pulsierenden Strängen. Die Seele des Vasanisten. Ich hatte wirklich Glück gehabt, dass er nicht einer von jenen Kandidaten gewesen war, denen ich nicht mehr helfen konnte. Dann hätte ich selbst nämlich auch ein ziemliches Problem gehabt. Ich streckte den Arm aus, griff nach dem roten, bösartigen Gewebe und trennte es langsam von dem neutral schwarzen Teil der Seele. Es war anstrengend- unglaublich anstrengend. Nachdem sich der rote Teil der Seele zurückgezogen hatte, verschwand der Bereich und ich erblickte wieder den Vasanist vor mir. Mein Herz pochte wie verrückt und zurück in meinem Körper angekommen, fühlte ich mich, als hätte ich einen hundert-Meter-Sprint hinter mir.
Um meine Hände hatte sich die eigenartige rote Energie gesammelt. Dunkelrote Schlieren, in dunklen Regenbogenfarben schimmernd, als hätte jemand Benzin darüber gegossen. Ich spannte meine protestierenden Muskeln an und schaffte es unter Aufwand all meiner Kräfte, die Energie auf den nicht-mehr-Vasanisten zu schleudern, der nur noch überrascht die Augen aufreißen konnte, ehe er zur Seite kippte. Musste beschissen sein, mit einem Teil seiner eigenen Seele beworfen zu werden.
Er war nicht tot- ich kam nach wie vor nicht mit dem Gedanken klar, einem Lebewesen den Garaus zu machen.

Schwer atmend richtete ich mich wieder auf, als ich neben mir eine Hand erblickte.

,,Nicht schlecht, Hexe."

Seth zog mich auf die Beine und tätschelte mir die Schulter. Ich zog die Augenbrauen hoch. ,,Ach, diesmal war ich nicht zu langsam?"
Seth fegte sich roten Vasanistenstaub von seinem T-Shirt. ,,Natürlich warst du das. Aber du konntest dich ja nochmal retten." Er wandte sich ab und richtete den Blick auf den Ex-Vasanisten, der sich immer noch nicht rührte. Dann streckte er den Arm aus. Schwarz-rotes Feuer flammte auf und umhüllte seinen Arm. Ich hatte lange genug gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, dass jemand wie Seth in der Lage war, seinen Arm in Flammen aufgehen zu lassen, ohne sich zu verbrennen- aber diese unnatürlichen Flammen verstörten mich noch viel mehr. Die Hitze, die von ihnen ausging, was deutlich zu spüren.
Ich hörte damit auf, die Flammen anzustarren und berührte stattdessen Seths nicht-brennenden Arm.
,,Nicht", sagte ich. ,,Er ist kein Vasanist mehr."
Seth ließ den Arm sinken, die Flammen allerdings umhüllten diesen noch immer und ließen mich unwillkürlich ein Stück zurück weichen.
,,Das ist nicht von Belang. Er ist ein Rebell", erwiderte er.
Aber er war auch ein Lebewesen. Ich betrachtete den jungen Mann, der langsam wieder zu sich kam. Das Zeichen der Rebellion leuchtete rot und unübersehbar an seinem Hals.
,,Du kannst ihn ja in Lysannas Zelle sperren", schlug ich vor.
Er zog die Augenbrauen hoch. ,,Und dann vermehren sie sich und wir haben einen Haufen Mini-Rebellen? So läuft das nicht."
Einen Versuch war es wert gewesen. Seth streckte den Arm aus, ließ ihn aber gleich darauf wieder sinken und die Flammen erloschen. Dann löste er einen Dolch von seinem Waffengurt und hielt ihn mir hin. ,,Tu es."
Was zum... Ich starrte auf den Dolch und anschließend wieder zu Seth. War das sein Ernst? ,,Ich... kann nicht."

,,Du wirst es eines Tages können müssen. Nimm den Dolch, Cleo."

Ich nahm den Dolch entgegen und sah auf den Ex-Vasanist herab. Er war kaum älter als ich. Er sah menschlich aus. Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Er atmete- er lebte. Mittlerweile war er wieder wach und starrte mir in die Augen. Seine waren nicht mehr Vasanisten-rot, sondern hellblau. Ein schönes, klares hellblau...

,,Cleo!"

Es ging nicht. Es widerstrebte mir, ein Leben zu beenden. Da war diese Hemmung... Diese Blockade, die mich daran hinterte, zuzustechen. Es funktionierte einfach nicht.
Kopfschüttelnd ließ ich den Dolch sinken, während der Ex- Vasanist mühsam versuchte, sich aufzurichten. ,,Ich kann das nicht."
Seth seufzte und klang dabei wie eine enttäuschte Mutter. ,,Einen Versuch war's wert", murmelte er. Dann streckte er den Arm aus. Rote Flammen zerrissen die Dunkelheit der Nacht und nahmen die Sicht auf den Vasanisten. Ich trat einige Schritte zurück, konnte die Hitze aber trotzdem deutlich spüren. Einen Moment sah man nur die eigenartigen, unnatürlichen Flammen, dann zogen sie sich wieder zurück. Alles, was von dem Rebell noch übrig war, war Asche, die der Wind verwehte. Verdammt. Ein Schauer fuhr mir über den Rücken und ich wandte mich ab. Mein Blick schweifte über die roten Staubhäufchen und toten Körper, die am Boden lagen. Das sollten für heute wohl alle uns feindlich gesinnten Lebensformen gewesen sein. So viele Tote... Ich war erleichtert, dass es vorbei war, gleichzeitig fand ich den Anblick verstörend. Vasanistenstaub, Leichen und Asche... Asche von Körpern, die Seth in Solche verwandelt hatte.

Es war nun vier Tage her, dass Seth gegen Leandros, den Anführer der Rebellion, gekämpft hatte. Vier Tage, an denen wir nachts von besorgniserregend vielen Vasanisten und Rebellen angegriffen worden waren.
Es war immer eine größere Gruppe von Rebellen, die nachts vor dem Internat aufkreuzte. Wenn wir diese erledigt hatten, normalisierte sich der Bestand für diesen Tag wieder. Leandros hin oder her, die Rebellion existierte noch und sie schien die Geduld zu verlieren. Es war zu vermuten, dass die nächste Zeit größere Angriffe folgen würden und die aktuellen nur aus einigen wenigen Rebellen bestanden, die nicht länger warten wollten.

Was ich mit den ganzen Kämpfen zu tun hatte? Nun, mein gestiefelter Lieblingshalbgott hatte mein Training wieder aufgenommen und ließ mich, mit offizieller Erlaubnis des Rates, nachts 'Praxis-Training' absolvieren.
Übersetzt hieß das so viel wie 'vor dem Internat als billige Arbeitskraft Vasanisten erledigen'. Aber natürlich war das nur zu meinem Besten. Alles war zu meinem Besten. Und es ging auch überhaupt nicht um meine möglicherweise im Kampf äußerst nützlichen Fähigkeit, Vasanisten in normale Halbgötter zu verwandeln. Natürlich nicht.

,,Wir sind fertig für heute." Seth legte eine Hand auf meine Schulter und schob mich Richtung Eingang des Internats. Diese Berührung löste etwas aus, das sich wie ein leichter Stromschlag anfühlte- es war die Macht, die von ihm ausging. Äußerlich hatte er sich nicht verändert. Er sah noch immer aus wie ein tätowierter Engel mit ausgeprägter Vorliebe für dunkelschwarze Kleidung und auch seine Augen hatten wieder das gewohnte Amethystviolett, aber Seth war dennoch jemand anderes, als noch vor vier Tagen.
Es war nicht nur sein Feuer, das anders war. Es war auch seine Aura. Mächtiger. Göttlicher.
Für einen kurzen Moment hatte ich ihn mit roten Augen gesehen. Und das... das war einfach nur schräg.
Seth drehte den Kopf in meine Richtung und zog eine Augenbraue hoch. ,,Wird's bald oder soll ich eine Sänfte organisieren, die dich in dein Zimmer geleitet?"
Ich verdrängte die Überlegungen und folgte Seth kopfschüttelnd. Erwähnte ich schon mal, dass ich ihn gerne auf den Mond schießen würde?
Seth begleitete mich bis vor die Tür meines Wohnheimes, dann nickte er mir zu.
,,Geh schlafen. Du wirst die Energie morgen im Unterricht brauchen." Er wandte sich ab.
,,Tschüss", rief ich ihm noch hinterher, aber er erwiderte nichts mehr. Allerdings wunderte mich das auch nicht weiter. Die Aussprache von Formalitäten wie 'Guten Tag', 'Tschüss', 'Bitte' und 'Danke' schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten.

Kopfschüttelnd betrat ich das Gebäude und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Ich war müde und fühlte mich ausgelaugt. Das war normal, wenn ich in der Seele von Vasanisten herumgepfuscht hatte, aber ich wusste auch, dass es nicht nur daran lag.
Morgens hatte ich Unterricht, nachmittags trainierte ich mit Seth oder Zeke und nachts trainierte ich draußen. Mein Körper schien langsam ernsthafte Probleme mit dem ganzen Training und vor allem mit dem Schlafmangel zu bekommen.
Ich war zu müde, um mich noch umzuziehen, deshalb zog ich nur die Stiefel aus und ließ mich ins Bett fallen. Kurz darauf war ich bereits eingeschlafen.

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt