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Beat

Ich erwache von einem Albtraum. Diesmal ist es ein ganz schlimmer.

Meine Mutter war noch am Leben. Wie das in Träumen so üblich ist, habe ich diesen Umstand nicht hinterfragt. Für mich war das einfach die Realität.

Besonders viel ist nicht passiert. Ich saß neben ihr am Fenster und habe mit ihr einen Tee getrunken. Gesprochen wurde auch nicht viel. Draußen hat die Sonne geschienen und sie machte eine Bemerkung, wie schön das Licht durch die Bäume fiel.

Als ich aufwachte, ging es mir für den Bruchteil einer Sekunde wieder gut. Diese Last, die ich seit zwei Jahren auf meinem Herzen trage, war weg. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, dass da doch irgendwas war...

Und dann fiel es mir ein: Mom ist tot. Das war nur ein Traum.

Ich sitze an meinem Schreibtisch im Wohnheim. Es ist Samstag, doch ich werde den Tag nicht fürs Ausruhen oder sonstige Freizeitaktivitäten nutzen können. Eigentlich sollte ich lernen, doch auch das werde ich ganz sicher nicht tun können. Nach diesem Traum bin ich nicht viel mehr als ein Nervenbündel mit etwas zu hohem Puls und angespannten Nackenmuskeln. Ich kann mich auf rein gar nichts konzentrieren, was bedeutet, dass ich mich auch leider nicht von meinen Empfindungen ablenken kann.

Es ist eine ganze Weile her, dass ich einen solchen Traum hatte, der mich auf diese Weise verstört hat. Ich dachte wirklich, ich kriege das in den Griff. Meine Vermutung ist, dass das Gespräch mit meinem Vater über die Therapie diesen Traum getriggert hat.

Mein Blick fällt auf mein Handy, welches etwas zu nahe an der Kante meines Tisches liegt. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, in einen Zug zu steigen und Moms Grab zu besuchen. Doch dann verwerfe ich die Idee wieder, wie so oft.

Seit der Beerdigung war ich nicht ein einziges Mal dort. Dad geht jede Woche zu ihr. Ich kann es einfach nicht.

Wie sonst auch, frisst mich das schlechte Gewissen auf, knabbert langsam an meinen Rändern und arbeitet sich dann zielstrebig zu meinem Inneren vor, bis ich schließlich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu kriegen. Ich fasse mir an den Hals und spüre bereits, wie meine Kehle sich immer stärker zusammenzieht. Ich schließe die Augen und merke, wie eine einzelne Träne meine Wange hinabrinnt. »Es tut mir leid, Mom«, flüstere ich und hoffe, dass sie mich hören kann, wo sich immer sie gerade ist.

Ein plötzliches Klopfen an der Tür lässt mich in meinem Stuhl hochfahren. Es ist, als wäre der Pause-Knopf gedrückt worden und meine Tränen versiegen. Auch meine Atmung verlangsamt sich zaghaft, als würde sie ausharren und darauf warten, was als nächstes passiert.

Ich wische mir schnell mit meinem Ärmel über das Gesicht und rufe: »Moment!« Vermutlich ist es Georgine. Ich nehme mir ein paar Sekunden um etwas zu mir zu kommen. Nachdem ich einige Male tief durchgeatmet habe, erhebe ich mich und öffne die Tür... welche ich um ein Haar wieder direkt zugeschlagen hätte.

»Warte! Bitte nicht zumachen!«, ruft Lillian peinlich berührt. Vermutlich sehe ich in diesem Moment so entgeistert aus, als stünde an ihrer Stelle Chucky die Mörderpuppe. Ich denke fast sogar, die Puppe wäre mir lieber als diese blöde Kuh.

»Ich... sorry. Ich will wirklich nur mit dir reden«, beteuert sie. Prüfend kneife ich die Augen zusammen. Ich kann mir keinen Reim auf ihr komisches Verhalten machen. Was soll das?

»Wir haben nichts zu bereden«, entgegne ich kalt, und mache bereits Anstalten, ihr diesmal wirklich die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch plötzlich ruft sie: »Ich will mich entschuldigen! Äh, bei dir.« Verdattert blinzele ich sie an. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.

BeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt