Beat
Das Wochenende kommt schneller als gedacht.
Die Tage ziehen an mir vorbei und ich versuche, mich ausschließlich auf meine Vorlesungen zu konzentrieren. Das gelingt mir auch relativ gut – zumindest bis Lane mir den Treffpunkt für unseren Ausflug zu seiner Familie schickt.
Ich warte um drei auf dem Parkplatz auf dich bei meinem Auto. Das ist dieses graue kastenförmige Teil mit der schiefen Antenne ;)
In diesem Moment hat es mich wie ein kalter Schwall Wasser ins Gesicht getroffen. Vorbei waren die Tage, in denen es keine Abmachungen und Fake-Beziehungen gab. Willkommen zurück in der Realität, Beat.
Es ist Freitag Nachmittag. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir in genau vierundzwanzig Stunden aufbrechen werden. Warum mein Magen sich dann bereits jetzt aufführt, als würde ein tollwütiges Frettchen darin leben, weiß ich auch nicht.
Frustriert ziehe ich mir meine klobigen Schnürstiefel an und schlüpfe in eine schwarze Regenjacke. Das Wetter lädt zwar nicht unbedingt dazu ein rauszugehen, aber ich muss mir einfach die Beine vertreten und den Kopf klar bekommen.
Ich setze mir einen dunkelroten Fischerhut auf und stöpsele mir drahtlose Kopfhörer rein. Heute steht mir irgendwie der Sinn nach klassischer Musik, weshalb ich Vivaldis Vier Jahreszeiten anmache. Es ist schwer zu sagen, welche davon mir am besten gefällt. Einerseits mag ich natürlich den ersten Satz des Winters unglaublich gerne. Er ist wunderschön leidenschaftlich und mitreißend. Doch andererseits liebe ich die herrliche Dramatik des dritten Satzes vom Sommer. Wenn ich also wählen müsste, wären die beiden meine Favoriten.
Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis ans Kinn hoch und vergrabe die Hände in den Taschen, während ich über den kleinen Parkplatz meines Colleges zur Straße schlendere. Die Luft ist immer besonders angenehm wenn es regnet. Es verschafft mir jedes Mal eine ganz besondere Art der Ruhe, den frischen Geruch ganz tief ein und auszuatmen.
Ich gehe den von Pappeln gesäumten Weg entlang, der für gewöhnlich von Joggern und Hundebesitzern eingenommen wird, heute jedoch nahezu leer ist. Es hat etwas Tröstliches, ganz allein mit der Natur zu sein und zu sehen, wie sich die Felder der örtlichen Bauern vor mir am Ende des Schotterweges erstrecken. Trotzdem bin ich froh, dass es nicht dunkel ist, denn dann würde ich mich nicht halb so sicher fühlen. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachtet den hellgrauen Himmel, wobei mir einzelne Regentropfen das Gesicht küssen, welche sich ihren Weg durch das Blätterwerk über mir bahnen konnten.
Kurz nehme ich mir einen Moment und denke an die Situation, in der ich mich mit Lane befinde.
Wenn mir jemand noch vor wenigen Wochen gesagt hätte, dass Lane Rye und ich Freunde werden würden, hätte ich mir noch an die Stirn getippt. Und doch ist genau das passiert... jedenfalls unter anderem. Natürlich schwebt über allem die Abmachung, die wir beide miteinander getroffen haben und ich frage mich, ob wir Freunde bleiben werden, wenn all das hier vorbei ist. Vermutlich nicht. Im Grunde genommen weiß ich noch nicht einmal sicher, ob wir jetzt Freunde sind. Es ist... kompliziert.
Plötzlich meine ich, meinen Namen gehört zu haben und drehe mich um. Da ich niemanden entdecken kann, gehe ich weiter. Wahrscheinlich habe ich mir das durch das Prasseln des Regens und Vivaldis Violinen nur eingebildet. Als ich jedoch nochmal entfernt »Beat!« höre, bleibe ich stehen, um nach dem Ursprung der Stimme zu schauen.
Es dauert einige Sekunden, bis ich eine schlanke Gestalt in hautenger Sportkleidung und hohem Pferdeschwanz entdecke, die auf mich zugejoggt kommt. Ich kneife die Augen gegen den herabfallenden Regen zusammen und identifiziere sie schließlich als Lillian. Für den Bruchteil einer Sekunde kocht erneut Wut in mir hoch, bis meinem Körper wieder einfällt, dass wir uns ja vertragen haben. So schnell, wie die Wut kam, schwindet sie auch wieder.
»Hey! Dachte ich mir doch, dass du das bist!«, ruft sie schließlich gegen die Lautstärke des schlechten Wetters um uns an, als sie vor mir stehen bleibt. Ich breite ungelenk die Arme aus. »Ja, hier bin ich.«
»Und, was machst du?«, fragt sie und wringt dabei ihren klatschnassen Pferdeschwanz aus, was sie sich jedoch hätte sparen können. Ich zucke die Schultern. »Keine Ahnung, wollte einfach ein wenig raus. Eigentlich sollte ich dich fragen, was zur Hölle du hier tust!«, sage ich und deute auf ihre Aufmachung. Sie lacht. »Tja, mittlerweile frage ich mich das auch.«
Ein kurzes Schweigen entsteht zwischen uns. Dann legt Lillian den Kopf schief, als wäre ihr ein Einfall gekommen. »Hättest du Lust, einen Kaffee trinken zu gehen? Ich bin komplett durchgefroren und du siehst auch aus, als könnte dir ein Heißgetränk gut tun.«
Ihr entgeht nicht, dass sie mich damit etwas überrumpelt. Doch bevor sie sich dazu äußern kann, höre ich mich schon sagen: »Klar, gern!« Erfreut grinst sie. »Cool, dann treffen wir uns in einer Stunde an der Ravensen? Oder ist es dir lieber, wenn ich zu dir ans College komme?« Ich schüttle den Kopf. »Nein, kein Problem. Ich kann dich auch einfach in meinem Wagen mitnehmen.«
»Oh, das wäre superlieb! Ich habe geschwitzt und muss erst noch duschen. Falls ich es schneller als in einer Stunde schaffe, schreibe ich dir einfach.« Sobald sie die Worte gesagt hat, verzieht sie bedauernd das Gesicht. »Mist, ich habe deine Nummer ja gar nicht.« Ich lache. »Kein Problem, ich gebe sie dir.«
Nachdem wir Kontakte ausgetauscht haben, steckt Lillian ihr Handy weg und zwinkert mir zu. »Tja, so einfach kann man sich also die Nummer einer schönen Frau klären. Wenn ich das gewusst hätte.« Bevor ich etwas darauf erwidern kann, dreht sie sich schon um und joggt, kurz über die Schulter winkend, davon.
...
Zurück im Wohnheim hat meine Verwirrung und Unsicherheit größere Ausmaße angenommen.
Ich mag Lillian, keine Frage, aber... wie kann sie mit mir flirten, wo es doch nur einige Wochen her ist, dass ich ihr eine reingehauen habe?! Das ist verrückt.
Trotzdem kann ich nichts dagegen machen: Ich freue mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, aber ich finde Lillian sympathisch und würde sie gern besser kennenlernen. Was am Ende dann daraus wird, ist erstmal nicht wichtig.
Optimistischer gestimmt beschließe ich, meine zweifelnden Gedanken fürs Erste beiseite zu schieben und einfach alles auf mich zukommen zu lassen.
Ich betrachte mich flüchtig im Spiegel und bin mir nicht sicher, ob ich mich umziehen soll. Letzten Endes beschließe ich, den Sweater und meine Jeans einfach anzulassen, tue jedoch etwas gegen die vom Regen zerzauste Frisur. Ich überlege, ob ich mich noch etwas mehr schminken soll und probiere mich an einigen Lippenstiften aus, die ich auf meinem Tisch herumliegen habe. Schließlich wische ich sie mir alle wieder ab, da ich nicht wirken will, als würde ich einen zu großen Aufwand betreiben. Doch danach kann ich nur noch den Kopf über mich schütteln.
Seit wann interessiert es mich mehr, was andere – und dabei ist es egal, wer das ist – über mein äußeres Erscheinungsbild denken könnten, als ich selbst?! Am Ende bin ich diejenige, die sich wohlfühlen muss.
Kurz driften meine Gedanken wieder zurück zum morgigen Tag, wo ich Lanes Eltern das erste Mal gegenüberstehen muss. Ich bin mir sicher, dass ich mir auch da wieder einen großen Kopf machen werde, wie ich mich seiner Familie präsentieren soll. Allerdings ist das ein wenig anders, da Lane und ich einen Deal haben und es darum geht, Kompromisse zu schließen. Damit der Plan aufgeht, wäre es wichtig, dass seine Eltern mich mögen. Wenn das also bedeuten würde, dass ich in Strickcardigan und gebügelter Hose kommen soll, würde ich es tun. Ich weiß nicht, wie sie ticken und ob ihnen derlei Sachen wichtig sind, aber das werde ich noch früh genug herausfinden.
Doch jetzt in diesem Augenblick bin ich ausschließlich privat unterwegs. Das bedeutet, dass ich mir die Freiheit herausnehmen werde, mich zu stylen, wie es mir in den Kram passt. Während ich also zu dem dunkelroten Lippenstift greife, den ich mir vorhin noch abgewischt habe, denke ich: Das tue ich ausschließlich für mich und für das, was Lillian davon halten wird, kann ich nichts.
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So so... Beat und Lillian also? 😏 Was Lane wohl davon halten wird...? 👀
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Beat
ChickLitBeatrice Keller, genannt ›Beat‹, denkt nicht nach, bevor sie redet - sondern schlägt zu. Lane denkt mehr, als er spricht. Zumindest, bis er Beat begegnet. Als diese aufgrund ihrer aggressiven Verhaltensweisen vom Studiendekan ein Ultimatum gestellt...