Kapitel 1.3 - Steinernes Herz

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Die Welt um Nesta herum schien zu reißen. Ihr Bruder in ihren Händen verkrampfte sich mit jedem Schritt mehr.
Sie hielten auf einen engen Gang zu, der sich tief und steil durch das Gestein schlug.
»Rhys«, schrie sie durch den Raum, als sie ihn betrat. »Sie haben Nox gefunden! Sie haben ihn-«

Rhys tauchte hinter einem Haufen Schutt auf. Sein Hemd war blutverschmiert und die Wange von Schlägen gerötet.

Nesta blieb vor Schreck stehen. Ihren Freund so zu sehen war kein neuer Anblick, aber einer, der unter die Haut ging.
»Was hast du gemacht?«

Seine Augen blieben kalt auf sie gerichtet. Nach all den Jahren, die sie ihn kannte, war er immer mehr zu einer Hülle seiner eigentlichen Gestalt geworden. Die vielen harten Monate als Sklave in den Höhlensystemen hatten ihn zerstört. Nicht nur sein Rücken war geschunden, sondern auch seine Seele.
Das einzige, was noch an ihm zurückgeblieben war, war Trotz und Hass... Und der Wille zu töten. Jeden zu töten, wenn es hieß, seine Geliebten hier herauszuholen.
»Gefunden?«, wiederholte Rhys, ohne auf ihre Frage zu antworten. »Wollen Sie ihn opfern?«

»Ja. Sie haben ihn heute mitnehmen wollen.«

Mit einem Schluchzen brach der kleine Junge in Tränen aus. Er versenkte sein Gesicht in ihrer Schulter. Nur noch gedämpft klangen seine Schreie.
Er weinte sich die Seele aus dem Leib. Er wusste gut genug, was eine Opferung hieß, auch wenn Nesta es stets zu verstecken versucht hatte.
Niemand konnte ein Kind behüten, wenn die Gesellschaft keinen Raum für Schutz ließ.
Nox war verdorben. Nicht, weil er das Blut des Fintan in sich trug, sondern, weil er das Leid ertragen musste... Weil er in Sklaverei aufgewachsen war.

Rhys ließ den Eimer sinken, den er in seiner Hand gehalten hatte. »Also willst du endlich auch fliehen.«

Innerlich wollte sie es, doch trotzdem zuckte sie zurück.
»Fliehen«, wiederholte sie im Schock. »Fliehen.«

»Willst du, dass er-«, Rhys sprach nicht weiter. Sie würde wissen, was er meinte.
Niemand musste das Grauen hören, was jede Nacht in ihren Träumen schon genug mit ihnen sprach.

Nesta holte tief Luft, bevor sie sich traute ihren egoistischen Gedanken auszusprechen: »Wenn wir fliehen, wird uns ein grausamerer Tod erwarten. Uns alle.«

Auf ihre Worte folgte kein Widerspruch.
Rhys starrte sie nur weiter aus seinen ausdruckslosen Augen an. Er forderte einen Befehl. Er forderte den Befehl, das Reich verlassen zu können.

»Draußen wütet ein Krieg«, versuchte sie ihn zur Vernunft zu bringen, auch wenn sie somit gleichzeitig gegen ihr Herz argumentierte. Sie wollte ebenso allem entkommen, doch den Übertritt der Grenze hatte noch niemand überlebt, soweit man hörte.
Ihr Herz pochte wild und schien fast an ihre Rippen zu schlagen, dass ein ungehaltenes Zittern der Anspannung ihren Körper durchfuhr.
Flucht. Alleinig das Wort versetzte sie in Ekstase. So oft hatte sie darüber nachgedacht. So oft hatte sie überlegt, wie reizend und neckend es wäre, diesen Verhältnissen zu entkommen.
Nun, so endgültig vor die Entscheidung gestellt, wirkte es jedoch nicht mehr so positiv und erst recht nicht realisierbar.

»Der Krieg ermöglicht es uns erst zu fliehen«, wiederholte Rhys sein Argument, wie er es immer tat.
In seiner Stimme schwang weder Nervosität, noch Eindringlichkeit.
Doch seine Augen zeigten schon für sich den Wunsch, wie gerne er nun töten würde.

Nesta schwieg daraufhin nur, da schwere Schritte vom Gang aus zu ihnen dröhnten. Das Geräusch löste nichts als schlechte Erinnerungen in ihr aus und jäh zuckten Bilder vor ihrem Geist. Der Verlust ihres Vaters... Das Verschwinden-Lassen der Leiche ihrer Mutter.

Sie sprang auf.
Laufen. Verstecken, hallte es durch ihren Kopf, doch die Kammer war lang und unübersichtlich. Das einzige Versteck wurde von Rhys blockiert.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt