Kapitel 7.2 - das Lied der Einsamkeit

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»Deinen Bruder umbringen«, wiederholte Nesta so langsam, als könnte sie andernfalls mit ihren eigenen Worten nicht mithalten.

Sie hatte sich auf das Bett gesetzt, beobachtete Dougal dabei, wie er an den Tisch herantreten wollte, aber dann von Rhys aufgefordert wurde, seine Schuhe auszuziehen. Nur mit einem Murren zog der Gott seine Schuhe aus und präsentierte die nackten Zehen.
Dougal breitete eine Karte auf dem Tisch aus. Es war die selbe Karte, wie Rhys sie ihm gebracht hatte kurz bevor das Haus eingestürzt und die Aasfresser Nox entführt hatten. Es war die selbe verworrene Geheimschrift, die kantigen Skizzen und abgenutzten Ränder. Dieses Blatt weckte keine positiven Erinnerungen.

Dougal nahm auf einem Schemel Platz. »Ja. Wir wissen jetzt wie. Wir haben Erleuchtung erhalten.«

»Erleuchtung«, wiederholte Rhys ohne den spottenden Ton seiner Stimme verstecken zu können — oder zu wollen. »Ich dachte, das ist nur ein Märchen.«

»Kein Märchen. Ibai wird eine Schiffreise machen. Mit seinen wichtigsten Beratern. Und das da« Er wies auf die Zeichnung vor sich. »Sind die Pläne. Abfahrt, Route, Aufbau des Schiffs. Alles. Und das alles konnten wir jetzt dank Vater erfahren.«

Rhys zog die Augenbrauen zusammen, als ihm der indirekte Befehl klar wurde: »Du willst uns auf das Schiff schmuggeln? Auf das Wasser? Wir, die nicht schwimmen können?«

»Die meisten hier können nicht schwimmen.« Dougals Kopf raste zu seiner Schwester. »Und manche lernen es in hunderttausenden Jahren nicht.«

Das Mädchen presste nur die Lippen zusammen, dass diese so weiß erschienen, wie der Rest ihrer Haut. Den brüderlichen Scherz ließ Sneha über sich ergehen.       

»Macht euch keine Gedanken«, beschwichtigte Dougal mit einem gütigen Lächeln. »Ibais Schiffe sind so konzipiert, dass sie nicht untergehen. Ibai ist, wortwörtlich, ein Gott wenn es ums Wasser geht.«

»Und auf diesem Schiff sind Menschen gestattet?«

»Ja. Nur wenige und sehr reiche, aber ja. Und das Personal besteht aus Menschen.«

Seine Schwester währenddessen setzte sich in eine Nische in der Wand. »Der Krieg muss enden. Wir brauchen Tardacum und das Wissen, ob Ibai welches hat. Auch Ibais Fähigkeiten sind ohne Tardacum sinnlos. Wahrscheinlich also versucht er auch welches zu beschaffen. Die Front ist deshalb still gelegt worden, schon seit einigen Monaten. Die meisten Wesen sind gefallen« Bei dem Satz verkrampften sich ihre Hände. Sie ballte sie zu Fäusten als sie in den Stoff ihres Kleides griff, dass sich ihre Knöchel weiß hervortaten. »Und wir haben keine Möglichkeit neue zu erschaffen. Bei Ibai scheint es genau so zu sein. Wir wissen trotzdem nicht, ob er nicht doch noch was in der Hinterhand hat.«

»Warum sollte er seine Geschwister eigentlich allesamt umbringen wollen? Immerhin war er doch der, der den Krieg angefangen hat, oder nicht?«

»Gier. Eigentlich ging es ihm nur um Halcyon, aber ich glaube mittlerweile will er alle Gefilde.«

»Also habt ihr ihm dieses Halcyon schon überlassen?«

Snehas stechender Blick lag auf Dougal. Sie wollte, dass er antwortete. Sie verlangte, dass er seine eigenen Fehler eingestand. Sie erwartete Reue. Doch die blieb aus: »Nein«, antwortete Dougal als sei es belanglos für ihn. »Die Front spannt sich direkt auf der Höhe Halcyons, rund um das Gefilde herum. Niemand kam bisher lebend rein. Nicht, dass wir wüssten.«

»Also nach all den Jahren weiß niemand wie es in Halcyon aussieht? Oder was dort passiert?«

»Es ist unser Elternhaus. Halcyon besteht eigentlich fast nur aus einem einzigen Anwesen.« Dougal legte ungläubig, bis gar ein wenig genervt, den Kopf zur Seite. »Sagt mal, hat euch das nie jemand erzählt?«

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt