Kapitel 8.2 - Schatten der Götter

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Irgendwo im Bauch des Hauses hallten Anweisungen. Wachmänner stürmten durch die Flure.
Sie haben ihren toten Kameraden entdeckt und sind jetzt auf der Suche nach uns, stellte Nesta fest. Sie bog um die Ecke und sah, dass Rhys zentral im nächsten Raum stehen geblieben war.

Das Mädchen verharrte ebenfalls einige Sekunden. Ausgehend davon, dass vor ihnen bewaffnete Wachen stehen würden, trat sie schließlich neben ihn — die Hände von sich gestreckt.
Doch das was sie erwartete, ging mehr unter die Haut, als der schlichte Anblick von bewaffneten Menschen.

»Was ist das?«, fragte Nesta — ihre Worte nur noch ein Hauch.

Rhys konterte lediglich mit einem abgebrochenen Schulterzucken. Seine Finger kribbelten, wollten ihn dazu bewegen, seinen Revolver zu ziehen und einmal mehr allem hier ein Ende zu bereiten.
Die Umstände hingegen waren aussichtslos. Erst jetzt bemerkte er, wie sich im Raum noch weitere drei Gestalten befanden. Sie alle sahen zu ihnen. Sie starrten ihn ein — in die tiefsten Abgründe seiner Seele... Als könnten sie wissen, wie gerne er nun morden würde.

Etwas, das man nicht umbringen konnte. Rhys hasste den Gedanken, doch schien er ihn überallhin zu verfolgen. Die Wesen an der Grenze, die Götter, diese Geschöpfe vor ihm...
Sie alle sorgten für eine grausame Erfahrung auf dieser Welt. Und das einzige, was er dagegen tun konnte, war warten, dass eines dieser unsterblichen Kreaturen eines Tages seinen Tod bedeuten würde. Sein Atem würde vergehen und in der Geschichte würde er so unwichtig sein, wie ein Wimpernschlag.

Er war nichts. Und diese Vorstellung wurmte ihn.

Warum konnten die Menschen nicht auch mit Unsterblichkeit gesegnet sein, wenn sie doch sonst nichts hatten, was sie besonders auszeichnete?
Sie hatten in der Geschichte der Welt nie etwas beitragen können — waren immer bloß die Spielbälle.

Etwas daran musste sich doch ändern können.

Der Argwohn in Rhys Zügen rief keine Reaktion der Wesen hervor. Sie blieben stehen.

»Was wollt ihr von mir?«, fragte Rhys schließlich. »Ihr verfolgt mich.«

Eine Antwort blieb eine ganze Zeit aus.
Vom Nebenraum her ertönten die immer schneller werdenden Schritte der Wachmänner, die sich auf ihren Standpunkt zubewegten... bis sie plötzlich komplett verstummten. Stattdessen wurden sie von spitzen Schreien, grölendem Jaulen und scharfen Atemzügen abgelöst. Wie in einer Folterkammer brüllten die Menschen.

Nesta versteinerte und selbst ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Sind das die Wachmänner die so schreien? Was hat sie überfallen? Was ist da draußen?
Dann wurde es wieder still. So still, dass sie hätte schwören können, sie hörte, wie ihre eigenen Organe sich vor Schreck zusammenzogen.

Eine Lache Blut zog sich durch eine Tür, zu ihrer rechten, hindurch in den Raum.

Was ist das? Nestas Gedanken schienen zu schreien — sich zu überschlagen und immer lauter zu werden, je länger sie der Stille ausgesetzt war, in der die brüllenden Laute gemündet waren.
Die Wachmänner waren allesamt tot. Dazu gab es keine Zweifel... Doch was hatte sie dazu veranlasst, sich derart die Seele aus dem Leib zu schreien?

»Wir sind eure Freunde«, brachte eines der Wesen in brüchigem Akzent hervor, als habe es nichts mit dem vorangehenden Unheil zu tun.

Rhys wich zurück und stieß dabei gegen Nesta. »Ihr seid Wahnsinnige. Habt ihr das gerade gehört? Werdet ihr das mit uns auch machen, hm?!«

Ein anderer Schatten antwortete: »Nein. Dafür gibt es keinen Grund.«

»Was wollt ihr von uns?«

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt