Kapitel 5.2 - Tardacum

61 13 58
                                    

»Du willst Nox ernsthaft mitnehmen?«, fragte Rhys und schob sein Schwert zurück, um es hinter dem langen schweren Mantel zu verstecken. Er tat es so locker, als habe er es schon tausende Male getan.

Vielleicht hat er das sogar. Vielleicht hat er schon damals mit dem Schwert gekämpft, überlegte Nesta.
Sie hatte hatte Rhys damals besser gekannt, als sich selbst. Nun jedoch hatte er so viele Geheimnisse, dass sie ihn kaum noch einzuschätzen vermochte.
»Wenn der Apotheker noch im Gebäude ist, wird Nox uns als gute Ablenkung dienen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du ihn wirklich diesem Risiko aussetzen willst.«

Nesta drehte eine Locke um ihren Finger. »Will ich nicht, aber wo sollen wir ihn sonst lassen? Bei einem Gott, der in ihm irgendeinen Magier sucht?«

»Guter Punkt, aber vielleicht ist Nox wirklich ein Magier.«

»Nein. Und sag das bloß niemandem, sonst nimmt man ihn mir noch weg. Du weißt, was man mit Magiern macht.«

Rhys schwieg daraufhin und betrachtete die Abbildung des Tardacums. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen sagte er: »Ich verstehe nicht, dass Dougal uns das Zeug anvertraut.«

»Ich auch nicht. Vor allem wenn man bedenkt, wie frech du ihm gegenüber bist.«

»Der Kerl provoziert mich aber. Er hat mich Knirps genannt. Knirps

»Ja und? Dougal nennt jeden Knirps, selbst Reuel.«
Er hat auch allemal einen Grund dazu, immerhin ist er ein Gott. Aber diesen Gedanken würde sie niemals laut aussprechen.
Etwas an Reuel schien immerhin auch nicht ganz normal zu sein. Nicht nur, weil er sich als Dougals „besten Kumpel" bezeichnete und beide diesen Beziehungsgrad als Vorwand nahmen, sich immer nebeneinander hinzusetzen... Nein, Reuel wirkte anders... Fast so verschroben, wie die Götter selbst.
Ironischerweise hatte Nesta aus einem Gespräch herausgehört, wie Dougal ihn einmal als "alten Mann" bezeichnet hatte - etwas, das gänzlich im Kontrast zur Anrede als "Knirps" stand.

War da wirklich etwas dran, dass man Reuel als noch älteren Mann bezeichnen könnte? Er wirkte um die sechzig bis siebzig - ein durchaus gesegnetes Alter, was in Nestas Heimat so eigentlich nie möglich gewesen wäre.

Mit einem Kopfschütteln verdrängte sie den Gedanken an Fintans Reich und fügte hinzu: »Als mir das erste Mal hier die Haare geschnitten wurden, wurde ich mit einem Hund vergleichen. Habe ich so einen Aufstand gemacht? Nein.«

Mit einem Schnaufen gab Rhys sich geschlagen.

Sie wanderten weiter durch die Gassen.
In dunklen Ecken standen in weinroten Roben gehüllte Menschen mit Masken. Einige beteten, andere hielten bemalte Steine in den Himmel und schienen, als wären sie selbst in der Bewegung zu Statuen geworden.
Aus den Fenstern drang das dämmrige Licht von Kerzen, als sich einige Leute herunterbeugten, um das Geschehen zu beobachten.

Nesta sah sich um und begegnete dem Blick eines dunkel gekleideten Mannes, dessen hellgraue Augen nahezu stechend aus dem Schatten der Kapuze hervorschauten.

Das Mädchen schauderte bei dem Anblick. »Meine Güte, warum müssen Magier so unheimlich sein?«

»Die bessere Frage ist doch was wir tun, wenn wir gegen diese Magier antreten müssen. Haben wir da irgendeinen Plan?«

»Nein. Dougal meinte ohnehin, das Zeug wird bewacht, als sei es nur ein Haufen Kies.«

»Nichts gegen ihn, aber für ihn wäre diese ganze Sache wirklich wie ein Kies-Einkauf. Wieso müssen wir es denn machen? Ob er nun am Gehstock geht oder nicht, dieser Drogensüchtige bezeichnet sich immerhin als Gott.«

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt