Kapitel 2.1 - Spiel mit dem Feuer

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Die Wände des Tunnels über Nesta schienen sie erdrücken zu wollen.
Sie fühlte sich wahrlich zerquetscht, wie ein Käfer. Eingeengt und umzingelt von spitzen Steinen, die ihre Handflächen aufschürften. Ihre Gedanken hallten an den viel zu engen Wänden wider und ihre Haare verfingen sich in den Fugen des Gesteins... Doch sie war zu taub, um zu hinterfragen, was sie tat. Es musste der Schock gewesen sein, denn erst nach mehreren Versuchen, einen klaren Satz zu formulieren, flüsterte sie mit erschreckend hoher Stimme: »Heißt das, es haben schon andere die Grenze erfolgreich übertreten.«
Weniger sollte es eine Feststellung, sondern eher eine Frage werden, doch die Panik machte ihr unmöglich, sich darauf zu konzentrieren, was sie sagte. Sie wurde abgelenkt durch das Ziehen der Anspannung in ihren Muskeln und dem brennenden Stechen in ihrem Herzen.
Das einzige, was ihr aufkam, waren düstere Gedanken und grausige Vorahnungen.

Ein dunkler Schacht ließ keinen Platz für erleuchtende Einfälle.

»Sind wir auch nicht. Denkst du das Regime würde zugeben, dass Leute bereits eine erfolgreiche Flucht hinter sich gebracht haben? Dann würden es noch mehr Menschen versuchen.« Das erste Mal seit langem färbte ein positives Gefühl seine Stimme. Es war Hoffnung.

»Wieso bist du dann nicht schon früher geflüchtet?«

»Wegen dir.«

Auf diese Antwort hin weiteten sich Nestas Augen vor Schreck und sie krabbelte schneller voran. Der Gedanke daran, dass sie nicht die ersten waren, bestärkte sie in ihrem Selbstbewusstsein. Es bestand eine wahrhaftige, echte Möglichkeit, dass sie es schafften.

Sie blickte über ihre Schulter zurück, zu Rhys. »Ich sehe den Ausgang«, murmelte sie nervös.

Auf der anderen Seite erkannte sie nichts als Berge und Steine. Und keine Wachmänner.
Wie konnte es sein, dass dieser Ausgang so unentdeckt geblieben war?

»Ich sehe keine Wachen«, sprach sie ihre Feststellung laut aus, in der Hoffnung, Rhys lönnte ihr erklären, was das zu bedeuten hatte.

Seine Stimme war kehlig und von Sorge zerrissen, als er antwortete: »Das Problem werden nicht mehr die Wachen sein. Wir begeben uns auf den Weg zur Grenze. Vergiss nicht, dass Fintan ein Gott ist. Er kann mehr beschwören, als einfache Wachen, wenn er Flüchtlinge aufhalten will. Erst recht jetzt, wo die Grenze für uns Menschen offen steht.«

Nesta machte vor dem Ausgang halt. »Was heißt das?«

»Dass ihr laufen müsst.« Er hielt inne, als er bemerkte, dass sie sichtlich schwankte. Nach einem Räuspern fügte er hinzu: »Heißt eigentlich, du musst laufen. Ich nehme Nox auf den Arm.«

Sie sah zu ihm zurück. »Nichts gegen dich, aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

»Ich pass auf ihn auf. Und jetzt lauf. Bleib in Bewegung, egal was du siehst oder was passiert.«

Mit einem Nicken ließ sich Nesta auf die Anweisung ein. Sie stieß sich vom Boden ab und rannte auf die freie Fläche, hin zur Grenze.

Begrüßt wurde sie von einer bergigen Fläche, rotem Gestein, Fugen und einer gewaltigen violetten Wand, die am Horizont schimmerte.
Sie sah aus wie feinstes Glas. Aus dem zierlichen Material gefertigt, als sei sie milchiger Staub, der in seiner Gestalt erstarrt war.
Das Violett funkelte kräftig und strahlte ihr entgegen.

Im vollen Lauf sah sie über ihre Schulter zurück und beobachtete, wie Rhys mit Nox aus dem Ausgang hervorkam.

Nestas Lungen brannten, als sie wieder die Wand vor sich fixierte.
Es war alles so ruhig. Die Ebene lag friedlich im Licht des Sonnenuntergangs.

Die Berge zu ihren Seiten waren zwar hoch und die Täler glichen Kratern, doch das warme Licht der Sonne und die erschreckend frische Luft, die ihr entgegenkam, war so friedlich.
Das alles fühlte sich an wie ein Spiel. Und sie musste nur laufen.

Der Boden drückte sich unter ihre Füße, als sie merkte, dass irgendeine Bewegung im Gestein vor sich ging.
Mit jedem Schritt pochten die Steine unter ihren nackten Sohlen. Es war, als würden sich kleine Finger aus dem Boden hervortun und sich in ihre Haut hineindrücken.
Das waren keine normalen Kiesel, die ihr Schmerzen bereiteten. Das war anders.

Sie wagte sich, einmal mehr einen Blick zurückzuwerfen und erstarrte, als sie kleine steinerne Stachel erblickte, die herausragten.

»Oh, bei den Höllen«, hauchte sie der Stille entgegen. »Was ist das?«

Es war so ruhig, dass man alles hören konnte. Nesta hatte niemals gedacht, dass tatsächliche Ruhe etwas so Erdrückendes sein konnte. Es hing schwer in ihrer Brust und schien sich mit jedem Atemzug zuzuschnüren.
Sie sog die Luft nur noch in kleinen Stößen ein und hustete heftig.

Mit jedem Atemzug jedoch wurde ihr Kopf leerer. Die brüllende Warnungen ihrer Gedanken legten sich zu einem Flüstern...
Nur ihre Lunge kämpfte mit jedem Atemzug.

»Halt die Luft an!«, kam es von hinten.

Einige Wimpernschläge später nahm Nesta diese Anweisung erst wahr.
Sie hielt sich jedoch sofort daran.

Rhys hatte aufgeholt und lief neben ihr. Mit einer rollenden Handbewegung wies er ihr an, weiterhin das Atmen zu unterdrücken.

Der Boden wurde unebener. Brennende Hitze stieg davon auf, dass Nesta für einen Moment annahm, sie haben Feuer gefangen.

Ihre Lunge wurde schwer. Sie widerstand der Versuchung einen kurzen Atemzug der kalten Luft zu nehmen, die beim Laufen um ihre Ohren wehte.

Ich werde gleich wieder atmen können. Der Alptraum wird enden und ich werde leben. Ich werde das hier überleben. Zumindest sprach sie sich diese Gedanken selbst ins Gewissen. Ob es der Tatsache entsprach, ließ sich nie einschätzen.

Sie wurde aus den Gedanken geholt, als sich hinter ihnen eine Woge unmenschlicher Schreie ergoss. Es waren grölenden Laute, deren Herkunft unbekannt war.

Während Nesta einen eigenen Schrei unterdrückte, zog Rhys den Revolver heraus.

Eine weitere Erschütterung ging durch die Erde. Schutt türmte sich auf. Der Boden verformte sich unter jeder Bewegungen. Von den Seiten schossen Steinspitzen dem Himmel empor. Lava lief auf dem Boden und Feuer bildete einen Teppich zu ihren Seiten. Einige weitere Rufe fremder Wesen begrub die Gegend unter sich.

Rhys drehte sich um und weitete die Lider zu einem schreckerfüllten Starren. Weit fernab hinter ihnen hatte er etwas mit den Augen fixiert.

Nesta wagte es nicht, ihren Kopf dahin umzudrehen. Mit stockender, langsamer Bewegung tat sie es dennoch und entdeckte dutzende Wesen, die ihnen folgten.
Es waren Kreaturen aus Schlamm und Schlick, die aus den entstandenen Hügeln krochen. Einige, wenige Bestandteile wirkten menschlich. Arme und ein Teil des Gesichts waren von gelblicher Haut überzogen. Der Rest des Körpers hatte sich zu einer Masse verschmolzen, die auf keine Herkunft deutete. Die erdigen Bestandteile hatten sich zu spinnen-ähnlichen Beinen an den Seiten des Rumpfes gebildet. Das Geschöpf starrte sie aus fünf Augen heraus an und der blanke Horror zeichnete sich auf dem noch bestehenden Gesicht.

Nesta stolperte als sie weiterrannte.

Einmal hatte Rhys sich umgedreht, um einem der Wesen in die Brust zu schießen, dorthin, wo er das Herz vermutete. Der Schlamm teilte sich und fiel auf dem Boden. Noch im selben Augenblick jedoch konnte er mitansehen, wie sich wieder neue Körper aus dem geteilten Schleim formten.

Nesta währenddessen lief an neu entstandenen, kleinen Vulkanen vorbei, aus denen Lava sprudelte. Ein Funken Feuer hatte sie am Hemd getroffen und sich direkt durch den Stoff auf ihre Haut gefressen.

Ihre Beine trugen sie automatisch voran. Sie dachte nicht, als sie sich der violett schimmernden Wand immer mehr näherte.
Sie konnte durch die gläserne Mauer hindurch auf die andere Seite blicken. Dort lag nur eine Wiese. Nichts weiter als frisches Gras.

Mit ausgestreckter Hand schloss sie die Augen und versuchte krampfhaft, an etwas Gutes zu denken, wenn sie nun die Grenze durchqueren würde... doch das einzige, das ihren Kopf heimsuchte, war der Spruch, der ihr schon damals in die Wiege gelegt wurde:

Beschwer dich nicht über die Flammen der Hölle, wenn sie es sind, die dich warm halten.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt