Kapitel 9.2 - Phantom zwischen den Bäumen

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Nox lief wieder in die Wälder hinein, dorthin, wo die anderen Jäger waren... und dorthin, wo er den Verdacht hatte, auf diesen mysteriösen Schattenmenschen zu treffen.

Es war, als würden seine trägen Knochen erstmals einen wirklichen Sinn in der Jagd sehen — nach so vielen Jahren wo sie nun schon seine Aufgabe war. Anfangs noch mit Elan und Vorfreude bei der Tat, hatten sich nun seine Augen an den Wald gewöhnt und selbst der Wechsel der Jahreszeiten war ihm keine Freude mehr.
Wie auch, ohne Beute?

Ein Ergebnis seiner täglichen Ausflüge hatte sich seit Monaten nicht gezeigt. Und das lag nicht an fehlendem Talent, zittrigen Händen oder Zurückhaltung, sondern daran, dass ihm keine Tiere mehr begegneten.
Während die anderen Jäger alt genug waren, um sich aus ihrem geschützten Gebiet herauszubewegen und andere Landstriche abzugrasen, war Nox in diesem Bereich gefangen. Und hier war alles wie ausgestorben. Selten hörte man ein Reh in der Ferne.

Nox hielt nach den anderen Jugendlichen Ausschau, auch wenn es nur drei gab, die in seinem Alter waren und die er als Freunde bezeichnen würde.

Mutter Hedwig hatte gesagt, er würde als Aufpasser mitgeschickt werden, um auf die jüngeren Kinder aufzupassen. Hieß das also, dass wirklich nur kleine Kinder in die Stadt durften? Und hieß das, dass die anderen Jugendlichen — Nox Freunde — hier bleiben mussten?

Mit einem Schütteln des Kopfes ließ er die Überlegungen von sich. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle. Das einzige, was einen Sinn hatte, war die Jagd.
Seine Mutter hatte ihm von kleinauf beigebracht, dass ein jeder Mensch im Dorf eine festgelegte Aufgabe hatte, diese Aufgabe unumgänglich sei und man sie mit Stolz, Würde und Verlässlichkeit ausführen müsse.

...Konnte er diese Aufgabe — seinen Sinn im Leben — überhaupt weiter ausführen, wenn er in der Stadt lebte?

Welche Stadt vor allem?
Nox hatte keine von ihnen namentlich kennen gelernt. Er hatte nur kleine Dörfer in der Umgebung bereist und dort auch nur die Schwellen von kleinen Gasthäusern und Läden übertreten.
Eine tatsächliche Stadt... Was eine merkwürdige Vorstellung.

Der Pfad vor ihm mündete in Moos. Aus der Ferne hallten die quiekenden Stimmen von Kindern und ruhigen Gespräche von Frauen, die am See die Wäsche wuschen. Unter diesen Bedingungen würde sich kein Tier finden lassen. Nach dem, was Nox jedoch gesehen hatte, wollte er nicht tiefer in den Wald hineingehen.

Die alten Leute erzählten gerne Legenden über die Tiefen des Forsts — Geschichten über Dämonen, Tiere und Geister, die in Nox tiefe Narben hinterlassen hatten. Er fühlte sich unwohl im Wald, wenn er alleine unterwegs war.
Viel lieber saß er Abends am Feuer, oder stand an den felsigen Klippen, um zu kokeln.

"Das Spiel mit dem Feuer scheint deine Kunst zu sein", hatte der Schmied angemerkt, als Nox ihm helfend zur Seite gestanden hatte.
Tatsächlich schien Hitze eine Leidenschaft zu sein, von der der Jugendliche nicht ablassen konnte. Sie erfüllte ihn mit mehr, als äußerer Wärme: Es glich einer inneren Erfüllung, einem Gefühl von Geborgenheit.
Und trotzdem durfte er nicht der Nachfolger des Schmiedes werden. Eher im Gegenteil: nachdem angeblich etwas passiert war, war Nox das Schmiedehandwerk gänzlich verboten worden, ebenso wie das Kochen, oder Backen.

Stattdessen war er Jäger geworden. Eine langweilige Beschäftigung, die ihn bis heute enorm frustrierte.

Als neben Nox ein Kopf aus dem Gebüsch rausgestreckt wurde, hätte er fast laut aufgeschrien.

Ein Mädchen sah ihn aus ihren neugierigen Augen heraus an. »Hast du dich erschreckt? Hab ich dich erschrecken können?«

»Nein.« Er betrachtete sie eine Weile. Sie war ein Jahr jünger als er, aber wesentlich größer... und ihre wilden Haare unterschieden sich kaum vom Geäst hinter sich.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt