Im selben Moment verschwand der mysteriöse Fremde vom Hinterhof und bewegte sich wieder in die Gasse hinein. Er verschwand gänzlich, als sei er ein böser Traum gewesen.
Nun war hier niemand mehr. Der Hinterhof hüllte sich in das Halbdunkle der Schatten.Rhys stand alleine zwischen den Fässern. Es gab niemanden, der mehr zu einer Gefahr für ihn werden könnte.
Niemanden töten, wenn es nicht notwendig ist, hallten Dougals Worte in Nestas Kopf wider.
Ob Rhys sich daran wirklich halten wollte und würde?
Nesta stemmte sich auf dem Dach auf, um zu ihrem Bruder herunterzusehen. Der kleine Junge starrte sie mussmutig an, als sie ihm ein Handzeichen gab, dann jedoch verschwand er im Verkaufsraum des Gebäudes. Die Tür zur Straße hin ließ er offen stehen.
Oh, bei den Göttern, bitte tu ihm nichts. Urplötzlich fühlte sich die Vorstellung, Nox den Köder spielen zu lassen, falsch an. Es war eine dumme Idee, eine Idee, deren mögliche Ausmaße sie erst jetzt realisierte...
Doch Zeit nachzudenken, blieb ihr nicht.
Nesta schwang sich vom Dach herunter und krabbelte die Kisten hinab.Rhys hatte sich bereits zur Hintertür bewegt und wartete darauf, den Lagerraum betreten zu können.
Dann hörte man leises Poltern und das Schaben von Holz aus dem Verkaufsraum.
Gut Nox, dachte Nesta mit unsicherer Genugtuung und ihr Lächeln auf den Lippen wurde echter. Jetzt, bitte, lass dir nichts antun.
Rhys hörte währenddessen, wie die Schritte des Apothekers sich in der Ferne verloren. Der Mann rief leise »Hallo? Ist da jemand?«
Wieder wurde etwas umgestoßen. Nox schien diese Ablenkung mehr als Vandalismus zu betrachten und weniger als ein Auf-Sich-Aufmerksam-Machen, wie sie es ihm eingebläut hatten.
Rhys quetschte sich durch den Spalt in das Haus; dicht gefolgt von Nesta.
Vor ihnen tat sich eine Kammer auf. Gegenüber war ein System aus Türrahmen, die einen geschlängelten Korridor verbanden, daneben ein Wandschrank und eine unsicher wirkende Wendeltreppe. Überall taten sich Kisten, Fässer und Regalbretter auf.
»Oh man«, gab Rhys so leise von sich, dass seine Stimme nichts mehr als ein besserer Lufthauch entgegen der warmen Kaminluft war.Er bewegte sich zu einer Aktentasche, der selben, wie der Mann sie gereicht hatte, und öffnete sie.
Er nickte — weniger aus Bestätigung, als viel mehr aus reiner Anspannung heraus. »Ich nehme nicht alle Flaschen mit, das ist sonst zu auffällig. Wenn ich ein paar dalassen, wirkt es noch so, als sei es ein Fehler im Handelsvertrag.«Am liebsten hätte Nesta gezischt, dass er leise sein sollte, doch verkrampften sich ihre Ohren viel zu sehr auf das Gespräch zwischen Nox und dem Apotheker im Verkaufsraum.
Wenn er ihrem Bruder etwas antat, was dann?Rhys ließ die Gläser in die Tasche hineingleiten, als er plötzlich innehielt. Von oberhalb — nein, direkt von der Wendeltreppe — dröhnten Füße über die Stufen. Es war ein ungezwungener Schritt — gemächlich, aber bestimmt. Jemand kam zu ihnen herunter.
Die beiden Jugendlichen warfen sich panische Blicke zu.
Nesta stürmte aus dem Gebäude, wieder hinaus auf den Hinterhof.
Rhys hockte sich unter die Wendeltreppe, die Tasche noch immer fest an seine Brust gedrückt, ein panisches Aufatmen unterdrückend.
Die Schritte wurden auf der Treppe langsamer.
Der Junge zog den Kopf ein und wartete.
Er war nicht der einzige: die Person, die soeben im Abstellraum angekommen war, schien dasselbe zu tun. Sie stand still da und sog schwer die Luft ein, als sei sie ein Hund, der die Fährte aufnahm.
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Die Raben der Götter
FantasyIn einem Krieg zwischen den sechs Göttern ist eine Gruppe Jugendlicher der Hoffnungsträger, der das Kriegsglück auf eine andere Seite bringen muss. • Als die drei Kinder aus der Sklaverei entfliehen können, in der die Menschen gehalten werden, hatte...