Kapitel 5.4 - Tardacum

61 12 81
                                    


Erste Regentropfen schlugen gegen die Scheiben des Verkaufsraums. In der Ferne klang Donner, der wie ein Beben über die Stadt rollte.

Bei dem Wetter würde sie niemand hinaustrauen. Es war verpönt, sich in den Regen zu begeben. Ausschließlich die unterste Arbeiterklasse war dazu gezwungen. Das Wetter hatte in der Religion eine andere Bedeutung: es war eine Zeit der Reinigung, der Stille und des Gebets. Die Leute saßen in ihren Häusern und ließen die Natur sich selbst von Geistern befreien.
Mit anderen Worten würde niemand da sein, wenn man uns etwas antut, stellte Nesta mit Unbehagen fest.

Ihr Blick glitt zu dem Apotheker, welcher selbst noch ein siebzehnjähriger Jüngling war. Er war ein Knabe mit pockennarbigen Zügen, leerem Blick und geschundener Haut.
Alleinig seine Hände zeugten von hart verrichteter Arbeit.

Er weckte etwas vertrauenswürdiges. Irgendwie erschien er, als wolle er selbst nicht hier sein.
Der Mann gab schließlich ein Brummen von sich, als er ihre Aufmerksamkeit auf sich bemerkte.

Der Magus war wieder einmal verschwunden — er schien ein sehr aktiver Zeitgenosse zu sein. Nun jedoch war sein Ziel ein anderes: Rhys.

Sie werden ihn nicht finden, sprach sich Nesta selbst ins Gewissen. Sie werden ihn nicht finden. Wir werden nachhause kommen, ich werde mich unter die Decke legen können. Wir werden leben.

Als wolle die Realität ihr jeden Optimismus aus den Kopf schlagen, drangen vom Obergeschoss im selben Moment schwere Geräusche zu ihnen herunter.
Der Magier schien sich nicht dafür zu interessieren, dass man immer genau wusste, wo er war. Sein Schritt war nahezu trampelhaft laut und nicht so anmutig-schneidig, wie die Geschichten über magiebegabte Menschen immer hergaben.

»Mein Freund ist draußen«, sagte Nesta einmal mehr — ihre Stimme bissiger und frecher, als sie wollte.

Der Apotheker störte sich daran nicht. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Tut mir leid, Kinder... Aber hey, es regnet eh draußen.«

»Ich wäre trotzdem jetzt lieber draußen als in Gewahrsam.«

Der Apotheker seufzte. Seine Stimme klang aufrichtig, als er beim Ausstoßen seines Atems sagte: »Ich weiß.«

Er scheint selbst unter dem Einfluss des Magiers zu leiden. Wie ist der Name dieses Apothekers noch gleich? Lenus?

Nesta trampelte unruhig zurück, ihr Blick glitt dabei immer wieder durch den Raum. Sie zwang sich, es wie Ungeduld wirken zu lassen, doch in Wahrheit war es die beißende Angst davor, aufzufliegen.
Was würden ihre Eltern nur tun, wenn sie wüssten, dass sie jetzt wieder für einen anderen Gott arbeiteten? Und dass Nesta das Leben ihres Bruders riskierte?

Wären sie enttäuscht, oder würden sie ihr auf die Schulter klopfen, als Zeichen dafür, dass sie stolz darauf waren, dass sie sich soweit durchkämpfte... Und es schon so weit geschafft hatte?

Die Stimme ihres Bruders holte Nesta aus den Gedanken.
»Ich will nachhause«, murmelte er mit bebender Stimme.

Die Reaktion des Apothekers war nur ein undeutliches Flüstern. Sein Blick richtete sich auf den Korridor, dorthin, wo der Magier hindurchgegangen war, um nach dem dritten Kind zu suchen.

Rhys währenddessen hatte sich die Wendeltreppe hinaufgeschlichen und stand nun in einem kalten Schlafzimmer mit halb geöffnetem Fenster.
Er drückte seine Umhängetasche an sich. Der Wind rauschte über das Dach und brachte mit sich die Vorhänge zum Wehen.
Glockentöne in der Ferne hallten schaurig über die nebelbedeckte Stadt, als wollten sie gänzlich alles Leben aus den Gassen vertreiben.

Also entweder ich werde von einem Magier gefressen, oder ich stürze mich in den Tod, stellte Rhys missmutig fest, als er an eines der Fenster trat. Unter ihm tat sich der tiefe Abgrund an der Fassade entlang ab. Der einzige Weg herunter, führte ihn auf das wacklige Vordach über dem Haupteingang.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt