Kapitel 9.3 - Phantom zwischen den Bäumen

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»Verdammt!«, brüllte ein Junge im vollen Lauf. »Ivy?«

Nox hatte seine Schüssel fallen lassen, um sich durch das Strauchwerk zu kämpfen, an dem die guten Beeren wuchsen. Die Schemen der Stämme wichen an ihm vorbei und beraubten ihn gänzlich seiner Wahrnehmung.

»Wieso ist sie denn in den Wald?«, fragte das Mädchen ihrer Gruppe mit zitternder Stimme. Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Nox antwortete ihr nicht. Er wusste: er war der Grund.

»Ivy!«

»Bitte, bitte antworte doch!«

»Meinst du dieses« Die Blicke lagen kurz auf Nox »Meinst du dieses Raubtier hat sie-«

»Es gibt dutzende Möglichkeiten. Wildtiere, sie kann gestürzt sein, ein Baum umgefallen, oder irgendjemand sie geschnappt haben... Oder sie hat einfach nur einen Schreck bekommen! Keine Ahnung!«

»Was ist das Wahrscheinlichste?«

»Keine Ahnung!«

»Was soll sie denn so enorm erschreckt haben, dass ihr Schrei einem das Blut in den Adern gefrieren lässt!«

»Verdammt! Ich habe keine Ahnung!«

Sie rannten weiter entlang, teilten sich auf, hatten Fackeln gezückt, Dolche bereit. Sie würden sie einsetzen, wenn sie mussten.

Ob sie sich wehren konnten, war eine andere Frage, über die sie im Moment nicht nachdenken wollten.

Als Nox vorrannte, bemerkte er einen Schatten an seiner Seite vorbeiziehen. Nicht wissend, ob es sich dabei um seinen eigenen, einen weiteren Baum, oder um eine andere Person handelte, rückte er weiter vor.

»Ivy«, rief er noch einmal, aber wartete nicht auf eine Antwort, um zur Seite zu schwenken. Erst als ein Geräusch ertönte, blieb er stehen.

Es war das Gackern eines Huhnes.

Laute, wie man sie in den Tiefen des Waldes nicht erwarten würde.

Nox ließ seine Augen zwischen den Bäumen entlangwandern und traf dabei auf das kleine Tier, dass das Geräusch verursachte hatte.
Das weiße Wesen stand neben einem Beerenbusch und pickte auf dem Boden.

Fast wäre Nox weitergelaufen, als er zwei Schuhe bemerkte, die unter dem Strauch hervorkamen.

Ohne nachsehen zu müssen, wusste er, dass es sich dabei um Ivy handeln musste. »Leute...«, murmelte er so leise, dass ihn niemand hören konnte. Erst beim zweiten Mal war er lauter: »Leute, kommt mal her!«

»Hast du sie gefunden, oder was?«

»Ja.«

Er trat vor, bewegte sich zu den beiden Schuhen hin.

Die Monde waren sein einziges Licht, sie boten ihm gerade einmal genug, dass er die groben Umrisse sehen konnte... Und den weißen Vogel, der heiter neben dem auf dem Boden liegenden Körper herlief.

Es handelte sich dabei wirklich um Ivy. Ein kleines blasses Mädchen, mit wilder Mähne und schmutziger Kleidung.

Es gab aber keinen Hinweis darauf, was mit ihr passiert war. Sie wirkte wie eingefroren: offener Mund, steif, kalt. Keine Verletzungen. Nichts.

Ein Kegel von Fackellicht legte sich auf der Erde aus.

»Kacke«, murmelte ein Junge. »Was tun wir jetzt? Ist sie tot?«

»Ich weiß es nicht. Ich will sie nicht anfassen«, gestand Nox.

»Bist du dumm?«, fauchte ein Mädchen und ließ sich auf die Knie fallen, um Ivy direkt vor sich zu ziehen. Sie tastete nach Puls — vergebens.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt