Kapitel 7.1 - das Lied der Einsamkeit

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Die Stadt Caim lag wie ausgestorben in der Landschaft. Alles Leben war aus den Straßen erloschen, Nebel verschleierte die Häuser und das Zwielicht verlieh den Glockentürmen etwas nahezu geisterhaftes.
Das einzige, das blieb, waren die drei Monde am Himmel.
... Eine magische Zeit; die Zeit der Erleuchtung.

Eine Lüge.

Nesta horchte in die Stille. Der Markt war leer, die Stimmen der Menschen verstummt.
Das, was man im Volksmund als die "unlauten Gassen" bezeichnete, hatte sich nun seinen Namen redlichst verdient.

Alles war tot, alles war leer. Niemand wagte sich mehr heraus, der gute Absichten hatte.
Es war die Stunde der Götter... Doch seit Jahren waren die Götter nicht mehr in der Lage gewesen, sich offiziell zu äußern.

Die Göttereltern hatten vor Jahrtausenden die Welt verlassen.
Zwei Götter sind tot.
Und die anderen werden ihnen irgendwann folgen.
Wir Menschen sind dazu verdammt, alleine zu sein. Der Gedanke entlockte Nesta Unbehagen, dennoch krabbelte sie auf dem Dach entlang, um die alte Fabrik zu betrachten.
Ihr war egal, ob sie sich gegen Dougals Predigten wehrte, gegen seine Vorstellungen verstieß und ihm in den Rücken fiel...

»Rhys.«, zischte Nesta in die Dunkelheit hinein.

Der junge Mann bewegte sich im Schatten zu ihr.»Wo, im Namen der Höllen,  willst du hin?«, fragte er mit der brüchigen Stimme eines Halbwüchsigen. Über die vergangenen vier Jahre war sie erschreckend tief geworden.

»In die alte Fabrik.«

»Bist du wahnsinnig?«  Nur durch seine Worte konnte sie verfolgen, wo er sich entlangbewegte. »Weißt du eigentlich, was da drin ist?« Er kletterte ein Dach aufwärts, um neben ihr vor einem Fenster in die Hocke zu gehen und das unförmige, zierlose Gebäude in der Athaver-Straat zu betrachten. »Dougal hat gesagt, wir sollen auf der Stelle in die Kanäle zurück. Das wird der Kerl nicht aus Spaß dahin-gelallt haben.«

»Aber da ist jemand von den Aasfressern in der Fabrik, glaube ich.«

»Ja, super. Einer der Aasfresser, oder irgendeine andere radikale Gruppe, die uns den Kopf kosten kann. Wir sind keine Aasfresser mehr.«

Sie antwortete anfangs nicht, sondern zog  die schwarze Kapuze ihres Mantels über den Kopf, um sich dann vorwärtszubewegen. »Mir egal, was ich bin.«

»Nesta«, zischte er in einem Flüstern und hielt sie am Arm zurück. »Verlierst du jetzt auch noch den Verstand? Lass uns gehen. Heute Nacht soll richtig was los sein.«

»Und als seine Spione ist es unsere Pflicht, ihm Informationen zu besorgen.« Nestas Stirn war von Frust zerfurcht. Für einen Moment fühlte sich ihr eigenes Verhalten kindisch an. Sie verdrängte das Gefühl jedoch, als sich ihre Gedanken wieder Nox widmeten. Sie musste ihn finden. Er war das einzige, das ihrem Leben noch einen tieferen Sinn gegeben hatte.

»Seit wann gelangt man an Informationen, wenn man sich blind umbringen will?«

»Ich will mich nicht umbringen.«

»Wenn du an Informationen gelangen willst, dann bleib auf dem Dach sitzen. Unten sind wir angreifbar.«

»Und wir sind hier oben besser geschützt? Wie übergewichtige Raben auf der Stange?«

»Meine Fresse, Nesta. Entweder wir bleiben hier, oder wir gehen in die Kanäle. Deine Wahl. Ich lass' dich nicht zu den Aasfressern hinlaufen. Du wirst erschossen, noch ehe du ein Wort aussprechen kannst. Die werden uns längst nicht mehr als Flüchtlinge von Fintans Reich betrachten. Die glauben, wir gehorchen Dougal aus reinem Gehorsam heraus.«

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt