Kapitel 4.3 - eiskalte Erkenntnis

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Die Morgendämmerung legte sich in einem roten Nebel über dem Wald aus. Das rege Treiben der nachtaktiven Bewohner Balters verstummte immer mehr, bis die Zelte schließlich in kompletter Stille ruhten.
Nur im Ärztezelt kannten die Leute scheinbar keinen Schlaf. Die Gespräche schallten laut und lebendig über die Lichtung und hielt den ein oder anderen Menschen wach, der versuchte, zu schlafen.

Nach langer Diskussion hatte eine der Ärzte Nox dazu bewegen können, sich verarzten zu lassen. Nun saßen die beiden direkt vor dem Zelt, im schwummrigen Licht, und wurden dabei nicht wenig kritisch von Nesta beobachtet.

Dougal hatte sich auf einen Stapel Fässer gesetzt und rauchte eine Pfeife nach der anderen, als würde der herbe Geruch ihn nicht abschrecken. »Ich denke«, begann er »Ich muss euch Kindern nicht erzählen, dass hier ein Krieg stattfindet.«

»Tatsächlich kann man das nicht überhören«, bestätigte Nesta.

Von außerhalb des Zeltes drang ein ruhiger, leiser Schritt. Nach einigen Sekunden tauchte ein kleines Kind im Zelt auf. Sie war nicht wesentlich älter als Nox — möglicherweise zwei Jahre — doch strahlte eine einschüchternde Kompetenz und unbestreitbares Selbstbewusstsein aus.
Für einen Moment glaubte Nesta gar, sie würde Geister sehen.
Das Mädchen sah wahrlich aus wie ein Phantom: weiße Haaren, blasses Gesicht, abwesender Blick. Vor den erdigen Tönen des Zeltes war sie wie aus der Welt gefallen.

»Dougal«, fing sie an, während sie ihren Blick über die Grenzflüchtlinge wandern ließ. »Wie viele eigentlich noch?«

Aus seinem Mund drang nichts als ein kehliges Brummen, als er einen weiteren Zug aus seiner Pfeife nahm. Erst nach einigen Augenblicken untätigen Starrens fand er zu Worten: »So viele, wie wir von ihnen kriegen können. Besser, als wenn sie zur anderen Seite gehen.«

»Verstehe«, gab die geisterhafte Erscheinung nur von sich.

Als Nestas Gesicht von Verwirrung zerfurcht blieb, erklärte Reuel: »Das ist Sneha. Dougals Schwester.«

»Was«, brachte Rhys nur von sich. »Ich dachte, es herrscht Krieg.«

»Wir waren gezwungen uns zusammenzuschließen«, erklärte Sneha, die weniger wie ein wahrhaftiger Gott, sondern eher wie ein Kind reicher Familien anmutete. Ihre Stimme jedoch alleinig war so rein und klar, als würde man mit einem nassen Finger über den Rand eines Glases fahren. »Zwei unserer Geschwister sind ausgebrannt worden. Fintan hat es geschafft, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Ibai hat den Verstand verloren und mehr Macht, als wir uns vorstellen können.«

»Und... Wenn er so viel Macht hat, warum ist der Krieg dann noch nicht beendet?«

Sneha wollte gerade zum Antworten ansetzen, da machte Dougal eine wegwerfende Handbewegung, um sie auf die wesentlichen Themen zurückzuführen: »Das ist kompliziert. Wir können momentan nur für uns kämpfen lassen und nicht selbst ins Gefecht. Das ist der tragende Punkt.« Er machte eine Pause und öffnete die Augen ein wenig. »Problematisch ist, dass alle Menschen uns bereits kennen. Sie wissen, wie wir aussehen. Niemand will mit uns reden und jeder geht uns aus dem Weg. Also brauchen wir euch.«

»Das haben wir schon verstanden«, murmelte Rhys. Eine Weile schien er mit sich zu ringen. Er wollte eine weitere Frage zu stellen, doch legte den Kopf schief und versank tiefer in seinen Überlegungen.
Wenn er wirklich ein Gott ist, wieso hat er dann einen Gehstock? Götter kann man nicht verwunden. Sie können sich selbst heilen.

Reuel streckte sich nach vorne, um Dougal die Pfeife aus der Hand zu nehmen und sich selbst an dem stechenden Qualm zu ergötzen. Währenddessen erklärte er weiter: »Kurzgefasst gibt es auf diesem Krieg nur noch zwei Seiten. Dougal und Ibai.«

»Und mich«, schnaubte Sneha empört. Mit einem Schlag klang ihre Stimme nicht mehr lieblich und rein, sondern beinahe militärisch. Sie blickte direkt zu Nesta. »Man sollte meine Stärke nicht unterschätzen. Ich arbeite auf Dougals Seite, aber auch nur, weil wir beide ohne einander den Krieg verlieren würden. Wir brauchen unsere gebündelte Macht. Im gewissen Sinne bin ich stärker als er.«

Von außerhalb des Zeltes wurde eine flüsternde Unterhaltung aufgenommen, als zwei Wachmänner am Zelt vorbeikamen. Sie nickten Dougal zu, als sei er ein alter Bekannter, und bewegten sich dann weiter.

Einschüchternd, stellte Nesta fest. Ihr behagte das kumpelhafte Verhalten gegenüber den Göttern nicht. Reuel hielt noch immer Dougals Pfeife in der Hand. Niemand von den beiden wirkte, als wäre es etwas Neues für sie, sich Kräuter zu teilen.

Rhys beugte sich vor. »Ich habe das Gefühl, dass Sie mehr von uns wollen, als einfache Spionage.«

»Wie kommst du darauf?«

»Uns wurde gesagt, dass wir notfalls auch Hand anlegen müssen. Ich bezweifle also, dass unsere Aufträge wirklich nur aus einfachem Abhören bestehen werden.« Der Junge lehnte sich an die Zeltwand. Für einen Moment blitzte tiefe Selbstzufriedenheit zwischen seinen Zügen auf. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen. Aber ich habe mehr das Gefühl, dass wir für Sie die Fäden ziehen und uns selbst um das Geschehen im Untergrund kümmern müssen.«

Nesta hob beide Augebrauen. Rhys dachte allemal weiter mit, als sie. Noch immer pochte ihr wilde Anspannung durch die Muskeln. Sie wäre nie in der Lage gewesen, eine geistesgegenwärtige Frage zu stellen. Das ganze Treiben im Zelt erschütterte sie und rieb sich an ihre Nerven.
... Und irgendein Teil von ihr wollte einfach nur wieder nachhause.

Dougal zog scharf die Luft ein, als habe Rhys einen wunden Punkt getroffen. »Ja, so kann man das auch bezeichnen... Aber vorerst will ich euch nicht zu viel zumuten. Ich kann euch nicht so sehr vertrauen, wie den anderen Grenzflüchtlingen. Die sind immerhin schon seit einigen Monaten in meinen Diensten und machen daher die etwas kritischen Aufträge.«

Nun erst fand Nesta selbst zu Worten: »Die Monde wissen, wie viel Respekt ich vor Ihnen habe, Dougal. Aber ich würde gerne etwas Zeit zum Atmen haben, zwischen den ganzen Aufträgen, die wir für Sie verrichten müssen. Ich möchte nicht wieder meinen gesamten Tag mit arbeiten zubringen.«

»Diese Last würde ich euch auch nicht aufbürden. Ich habe es schon einmal gesagt und ich sage es wieder, ich bin nicht Fintan. Ich respektiere die Menschen, wenn sie mich respektieren.«

Das lässt sich schnell sagen, schoss es Rhys durch den Kopf.

Sneha nahm neben Dougal Platz und wirkte nahezu winzig neben ihm. Ihr Ton war mütterlich, als sie sagte: »Wir würden euch auch einige Wochen Zeit geben, damit ihr euch einleben könnt. Ihr sollt die Stadt kennenlernen, in der ihr zukünftig agieren werdet.«

Reuel legte die Pfeife beiseite. »Aber passt auf. Die Stadt Caim ist so groß, wie ein gesamtes Reich. Es gibt tausende Menschen, hunderte Gruppen und nicht wenige Rebellionen. Haltet euch da raus, wenn ihr keine andere Anweisung von Dougal bekommt.« Er riss die Augen auf und fügte schnell hinzu: »Oder von Sneha.«

Die Ärztin mit den langen schwarzen Haaren kam in das Zelt zurück, mit Nox an der Hand.
Der Junge sah noch immer verweint aus und ein Verband um seinen Arm trübte den Eindruck, doch er wirkte zumindest erleichtert.

»Gut.«, Dougal erhob sich. »Dann fahren wir am besten direkt nach Caim, damit wir vor der nächsten Dämmerung dort ankommen.«

Rhys stolperte zu Nesta und flüsterte ihr zu: »Ich kann ihm irgendwie nicht vertrauen.«

»Hier kann man generell niemanden vertrauen, befürchte ich.«

»Sollen wir wegrennen?«

»Nein. Wenn er uns wirklich einen Platz zum Leben ermöglicht, will ich vor der Möglichkeit nicht davonrennen.«

Als Rhys zum Kontern ansetzen wollte, bemerkte er, wie Dougal der Ärztin, die sich um Nox gekümmert hatte, einen Kuss auf die Stirn gab. Dougal verließ das Zelt, als sei nichts passiert.

»Hat er-«, stotterte Rhys und vergaß, seinen Satz zu beenden.

»Ja. Ist das überhaupt erlaubt?«

»Nein. Ich glaube nicht.« Rhys machte eine Pause. »Wenn die Götter sich schon nicht an ihre Gebote halten, wieso sollten wir uns dann an sie halten?« Er sah sie undurchdringlich an, als er sich zum Ausgang des Zelts bewegte. »Du weißt, worauf ich hinaus will?«

Nesta nickte langsam. »Leider schon. Aber lass uns noch nichts zu früh riskieren.«

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt