Kapitel 9.1 - Phantom zwischen den Bäumen

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Nox sah zwischen den Stämmen hindurch, die mit ihrem schwarzen Holz im Nebel hervortaten.
Überall ragten Bäume aus dem Boden, dass es einem vorkommen konnte, als würde man Streifen sehen. Der Platz, den sie überblickten, lag komplett begraben in nebligen Dunst und langen Schatten.

Der Junge holte erst zittrig Luft, dann wandte er sich ab, um den Ort zu betrachten, auf dem neben zwei toten Menschen pures Chaos zurückgeblieben war. Überall zogen sich die Narben von Bränden über die Fläche, Karren lagen beiseite gestoßen auf dem Boden... und irgendwo in der Ferne tänzelte die Silhouette eines Heilers entlang, der den Kopf nur kurz misstrauisch angehoben hatte, als er Nox entdeckte.

Der Jugendliche setzte sich in Bewegung, um die verkohlten Aschereste zu überqueren. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, rief er dem Arzt aus der Ferne zu.

Etwas weiter abseits von ihnen hatte sich eine verwundete Frau auf dem Boden zusammengekauert, hielt sich den Kopf und wirkte nicht, als hätte sie Nox Anwesenheit mitbekommen.

»Nein«, antwortete der Heiler schließlich. »Du würdest uns nur hilfreich sein, wenn du dich nicht immer ablenken lassen würdest. Solltest du nicht auf der Jagd sein?«

»Äh, jaja, doch doch, ich- nur«, er zeigte über seine Schulter zurück in den Wald, dann deutete er auf die Armbrust, die träge an seinem Rücken herunterhing. »Ich hab nur gedacht, dass du vielleicht Hilfe gebrauchen könntest.«

Der Heiler blinzelte langsam, so langsam, dass er fast schon gelangweilt aussah. »Meinst du nicht, dass die da deine Hilfe früher hätten gebrauchen können?« Er nickte zu den Leichen, dann schmückte ein spitzbübisches Grinsen seine Lippen und entblößte die schiefen, vergilbten Zähne.

»Haha, sehr lustig.« Nox verlagerte sein Gewicht nach hinten, um die Frau von der Entfernung zu betrachten. Sie war blutig und von magerer Statur. Eigentlich sollte sie tot sein. Es wäre besser, wenn sie tot wäre.
»Ist sie also eine echte Hexe?«, fragte der Junge schließlich.

»Nein. Sie hatte nur Glück, überlebt zu haben.«

Die Rußflecken unter ihnen bildeten spielerische Muster — sie verbanden sich zu Runen und führten an jede Ecke des Platzes. »Kann ich«, begann Nox und musste den Kopf anheben, um nicht die Konzentration zu verlieren »Kann ich dir jetzt irgendwie helfen?«

»Du lässt dich wieder ablenken, Junge.«

»Stimmt doch gar nicht.«

»Dann beweise es mir und geh wieder zurück in den Wald. Was soll deine Mutter denn sagen, wenn du immer ohne Fleisch nachhause kommst? Was bist du denn dann für ein Jäger?«

»Mama weiß, dass ich-«

Eine Stimme aus der Ferne brachte Nox zum Schweigen. »Nox!« Als der Ruf wiederholt wurde und ein Bote aus der Nebelwand hervortrat, kam er zu ersten deutlicheren Worten: »Deine Mutter ruft dich. Du sollst nachhause zu ihr.«

Nox sah zum Heiler zurück und zuckte unschuldig mit den Achseln: »Keine Jagd also. Lässt sich wohl nichts machen.«

Er huschte an dem Boten vorbei, der ihm kumpelhaft in die Seite knuffte, als er ihn passierte.

Nox ließ sich nicht beirren, als er den Pfad betrat der von dem Kampfplatz weg, in ihre kleine Siedlung führte, die sich mitten im Wald auftat. Sie hatten nicht viel: ein verstecktes Lager, dessen Häuser kaum auffielen und deren wichtigste Gebäude von einem Wall geschützt wurden. Wachtürme gab es nur drei... Und einer von ihnen wurde bloß noch von Liebespaaren, oder Kindern zweckentfremdet.

Ein gefährliches Risiko: die andere kleine Gruppe versuchte immer noch an ihre Schätze heranzukommen. Indem die Aasfresser ihre Wachtrupps beweglich hielten, gingen sie ein gewagt-großes Risiko ein. Eines, das hunderte Leben fordern konnte.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt