Kapitel 6.2 - die Lehren des Verlusts

45 11 49
                                    


Nesta hätte den ganzen Tag verschlafen, wenn Rhys sie nicht in den frühen Abendstunden geweckt hätte.

Es fühlte sich an wie ein Wunder, dass sie überhaupt schlafen konnte. Das Gespräch mit Dougal hing ihr noch immer schwer in der Brust.

Ein Gift. Wie soll man einen Gott vergiften, wenn sein Körper doch unsterblich ist? Wie kann ein Saft jemandem den Geist ausbrennen?

Das System der Energie, der Götter und Magier war ihr zu umständlich. Es war zu viel auf einmal. Alles, das in der Außenwelt, weg von Fintans Reich geschah, schien so viel komplexer.
Damals hatte sie sich um all das keine Sorgen machen müssen. Und sie fragte sich nun, ob es in ihrer Heimat all das nicht gab, oder ob es nur eines dieser vielen Dinge war, die sie nie zu hören bekommen hatte.

Nur eines hatte sie damals gewusst: Das, was sie in den Mienen abgetragen hatte, diente Fintan als Energie. Ohne die Steine, die aus den Mienen abgetragen wurden, würde er keine Energie zu sich nehmen können... Das Reich würde stillgelegt und nichts mehr erschaffen werden können.
Im Prinzip baut das Reich auf den Menschen auf. Ohne uns wären sie verloren gewesen, stellte Nesta fest. Aber trotzdem haben wir uns nie getraut komplett zu rebellieren. Wir hätten auch keine Chance dazu gehabt. Es wäre uns nie möglich gewesen.

Ihre Gedanken beruhigten sich erst, als sie das Treppenhaus betrat.
Sie und Rhys tappten wieder herunter in Richtung des Gemeinschaftsraumes.
Der Junge hatte nicht ein Auge zugemacht und Nox mit den anderen Aasfressern beschäftigt gehalten.

Nun hatte er sie unter dem Vorwand geweckt, dass Zephyr und Reuel bald auftauchen sollten. Immerhin wäre dies etwas, dass Nesta interessieren könnte.

»Weshalb bist du gestern eigentlich zu Dougal gegangen?«, hakte sie nach und blieb auf der Treppe stehen. »Komplett alleine?«

»Da war noch ein Zettel in der Tasche drin«, flüsterte er, als wolle er die Existenz des besagten Schriftstücks vor jedem anderen geheimhalten. »Das war in Geheimschrift geschrieben. Da war noch die Skizze und einiges, dass ich als Bestandteile eines Schiffes identifizieren würde. Dougal meinte, er kümmerte sich darum und würde die Schrift entziffern lassen. Er wird uns dann Bescheid geben.«

»Du klingst so skeptisch. Vielleicht waren es die Hinweise zur Einnahme, oder so?«

»Vielleicht aber auch die Anleitung, wie man eine Waffe gegen die Götter mit dem Zeug baut. Oder gegen andere magische Wesen. Vielleicht will man so dem Krieg endlich ein Ende bereiten«, mutmaßte Rhys und bewegte sich herunter.

Nesta überlegte erst, ob sie ihre Theorie aussprechen sollte, entschied sich schließlich aber dazu, es zu lassen.
Sie hatte Nox mit den anderen Aasfressern im Gemeinschaftsraum alleine gelassen. Bei alldem hatte sie kein gutes Gefühl. Nicht, weil sie den anderen nicht vertraute, sondern weil Nox zu fixiert auf sie war, als dass man ihn einfach bei anderen lassen könnte. Alleine würde er nicht auskommen. Ihr Bruder brauchte stets eine geliebte Person um sich. Er hatte zu viel durchmachen müssen.

Nesta legte den Kopf in den Nacken und blickte an die rissige Decke des alten Stadthauses. Es erinnerte sie an merkwürdige Weise an die Höhlen, in denen sie damals gelebt hatte. Weniger mit der erwarteten Panik traf sie diese Feststellung, sondern viel mehr mit Stolz.

Ich habe es da rausgeschafft, stellte sie fest und sah Rhys nach, wie er das Ende der Treppe erreicht hatte. Wir haben es geschafft.

Ihr Freund steckte seinen Kopf durch die Tür und schob sich durch den Schlitz in den Raum hinein. Er ließ seinen Blick wandern, dann hingegen erstarrte er. Seine Augen hatten etwas fixiert, dass sich an der gegenüberliegenden Ecke befand.

Die Raben der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt