Falsche Sicht

32 9 0
                                    

Wir können nicht immer wissen, was als nächstes passiert. Ist es ein harter Verlust, eine schwere Entscheidung oder ein unnötiger Verzicht? Und wenn es soweit ist, werden wir dann die richtige Wahl treffen? Und was, wenn nicht? Manchmal ist es entscheidend, die falsche Richtung einzuschlagen, um wieder auf den richtigen Weg zu finden. Nur manchmal gibt es keinen richtigen Weg. Dann fühlen wir uns verlassen, allein, verloren. Als würden wir in einen Abgrund ohne Boden fallen, umhüllt von der Finsternis. Doch es wird immer wieder ein Licht scheinen. Manchmal dauert es etwas länger, bis wir es erreichen. Aber wir können sicher sein, dass es irgendwann soweit sein wird. Und wenn wir das nächste Mal vor einer Weggabelung stehen, werden wir nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden können. Wir werden nur auf unser Herz hören können und hoffen, nicht die falsche Sicht zu haben. So ist das Leben und wir werden es nicht ändern können. Doch wollen wir das überhaupt?

(Überlegungen von Nachtigall)
-----

Shadow schlug die Augen auf. Es war dunkel. Was ist passiert? Sofort fielen ihm die seltsamen Ereignisse seiner ersten Trainingseinheit bei den Felsen der sterbenden Sonne ein. Die Wut war komplett verflogen, er fühlte sich nur noch leer.

Mit einem Gähnen erhob er sich. Seine Pfoten standen auf weichem Moos und kühlen Steinen. Ein vertrauter Geruch strömte ihm in die Nase.

Plötzlich blitzten ihn zwei goldene Augen aus der Dunkelheit an. "Du bist wach.", miaute eine sanfte Stimme erleichtert.

Mond? Ungläubig blinzelte Shadow seine Schwester an. "Wo bin ich?", fragte er sie.

Mit einem Ohrzucken trat die getüpfelte Kätzin an ihn heran. "Du...hast geschlafen. Vorhin beim Training bist du einfach in Ohnmacht gefallen, dann haben Blitz und Schleier dich sofort in dein Nest gebracht und mit Kräutern versorgt." Sie machte eine Pause. "Wie geht es dir?"

"Mir geht's gut.", grummelte Shadow. Doch insgeheim wirbelten seine Gedanken im Kreis herum und drängten ihn dazu, all seine Sorgen hinauszuschreien. Warum war er ohnmächtig geworden? Warum war er plötzlich so wütend? Was bei der Nacht war mit ihm los? Er sog die Luft ein, spürte, wie sie seine Lunge füllte. Warten. Beruhigen. Ausatmen. Ein einfacher Trick, den Untergang ihm einst gezeigt hatte.

Wieder bei klarem Verstand musterte Shadow seine Schwester. "Wieso bist du nicht beim Training?", fragte er sie skeptisch. Mit einem ausweichenden Blinzeln sah Mond weg. "Sie haben wegen dir das Training beendet. Ich glaube, die anderen waren etwas sauer."

Beschämt starrte Shadow auf seine Pfoten.

"Was war vorhin eigentlich los mit dir?", hob Mond auf einmal vorsichtig an. Diese Fragen traf Shadow unerwartet. Wie sollte er sie beantworten, wenn er die Antwort selbst nicht einmal kannte?

"Na ja, also...Ich habe einfach zu wenig gegessen und wegen der ganzen Aufregung war ich wohl nicht ganz bei mir.", log er.

Mond sah ihn zweifelnd an, fragte aber nicht weiter nach. "Du solltest dich lieber schonen und es etwas langsamer angehen.", murmelte sie, ehe sie sich erhob und an ihrem Bruder vorbei aus dem Bau tappte. Mit einem Seufzen folgte der schwarze Kater ihr. Auf der Lichtung des Lagers war es ungewohnt leer. All, der Stellvertreter vom Stamm der Nacht, stand auf dem Ast des vertrockneten Baumes und war damit beschäftigt, einen Streit zwischen Blut und Sichel zu schlichten.

"Was soll das denn heißen?", ertönte die aufgebrachte Stimme von Blut. Die rote Kätzin mit den hellgrauen Tupfen sträubte wütend ihr Fell.

All schüttelte verständnislos den Kopf. "Jetzt mach doch nicht so einen Aufstand." Er warf Blut einen scharfen Blick zu. "Hat Sichel deinen halb angefressenen Specht genommen? Ja. Wusste er, dass es deiner war? Nein."

Zeit der Wahrheit (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt