Vorherbestimmt

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Alles passierte blitzschnell, doch für Shadow fühlte es sich an, als wären es Monde. Noch während er sprang, schnellte eine weitere Katze vor und warf sich zwischen Sichel und den schwarzen Kater. Ohne eine Chance zum Reagieren zu haben, bohrten Shadows Krallen sich bereits in den Hals der Katze. Ein furchtbares Geräusch ertönte und sie fielen beide zu Boden.

Überrascht landete Shadow auf der Seite. Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Wer war die fremde Katze? Warum hatte sie sich für Sichel geopfert? Er hatte nicht einmal genug Zeit, um sich ihre Fellfarbe zu merken. Bis jetzt wusste er nur eins: Er hatte sie getötet. Zitternd erhob der schwarze Kater sich und drehte sich zu dem Leichnam und Sichel um, der plötzlich gequält aufjaulte. Dann sah er sie.

Er erstarrte.

Alles um ihn herum schien zu zerfallen, als er langsam mit den Augen zum Gesicht der Katze hochwanderte. Ihr getüpfeltes, langes Fell war vom Wind zerzaust und Blut sickerte von ihrem Hals hinunter auf den Boden, wo es eine kleine Pfütze bildete.

"Was hast du getan!", schrie Sichel und versuchte aufzustehen, doch sackte unter den Schmerzen wieder zusammen. "Was hast du getan!"

Shadows Beine begannen zu zittern. Nein. Das wollte ich nicht! Voller entsetzten starrte er die tote Kätzin an. Er hatte sie getötet. Er hatte Mond getötet! Seine eigene Schwester! Das Blut rauschte in seinen Ohren, alles in seinem Kopf drehte sich immer schneller. Grauen und Entsetzen zogen an ihm wie eine gewaltige Strömung. Es tut mir so leid! Wirklich, ich wollte das nicht. Bitte komm zurück!

Mit einem verzweifelten Jaulen warf der schwarze Kater sich neben den Leichnam seiner Schwester. Die Wärme aus ihrem Fell war entwichen und ihre Augen richteten sich glasig gen Himmel. "Mond." Er stupste sie mit der Schnauze an. "Wach auf. Komm schon, du schaffst das. Du warst schon immer die Stärkere von uns beiden. Bitte verlass mich nicht auch noch!" Shadows Stimme verebbte und verwandelte sich in ein Schluchzen. "Du bist die Letzte, die mir wirklich bleibt."

Das war die Realität. Er war ein Mörder. Ein Dorn im Auge aller. Ein Fluch für den gesamten Stamm. Wäre er nicht da, würde Mond noch leben, würde Finsternis noch leben.

Neben Shadow stieß Sichel einen kummervollen Klagelaut aus. "Wie konntest du nur?", brüllte er den schwarzen Kater an. In seinen grauen Augen erkannte Shadow seine eigenen Gefühle wieder. Wut, Trauer, Verzweiflung.

"Ich wollte das nicht.", flüsterte er. Sein ganzer Körper fühlte sich wie gelähmt an und jegliche Energie, jegliche Lust zum Leben war aus ihm verschwunden.

Plötzlich stieß Sichel ihn von der Seite an. "Komm, bring es zu Ende!", knurrte er. "Das verdiene ich. Hätte ich dich nicht angegriffen, wäre Mond noch am Leben."

Eigentlich hätte Shadow überrascht sein müssen, dass der weißgrau-getigerte Kater so um seine Schwester trauerte. Aber in diesem Augenblick überraschte ihn gar nichts mehr. Alles schien so falsch, so unecht. Vielleicht ist das alles nur ein Traum? Hoffnung flammte in Shadow auf, die jedoch sofort erstickt wurde, als sein Blick auf Mond fiel. Nein, das ist real. Du hast sie umgebracht!

"Worauf wartest du noch?" Sichels erstickter Schrei drang kaum zu ihm vor. Kann ich ihn jetzt noch töten? Mond gab ihr Leben für ihn. Wenn ich ihn jetzt ermorde, dann war ihr Tod sinnlos. Das kann ich einfach nicht!

"Ich kann dich nicht töten."

Sichel fauchte wutentbrannt auf. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. "Ich werde dich nie vergessen, Mond", flüsterte er und zog sich mit letzter Kraft an den leblosen Körper der getüpfelten Kätzin. Mit einem Schlag wurde Shadow alles klar. Mond hatte Sichel geliebt. Er war der Kater, um den seine Schwester sich die ganze Zeit gesorgt hatte!

Shadows Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment in tausend Stücke zerspringen. Er hatte ihr eine Zukunft gefüllt mit Glück und Liebe genommen. Vielleicht hätten sie eines Tages Junge bekommen, doch jetzt war alles zu spät. Nichts konnte Mond wieder lebendig machen. Nichts konnte Sichel noch retten.

Auf einmal ertönte ein Knacken. Shadow machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen, bis plötzlich ein Kreischen die Stille brach. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder.

Langsam hob Shadow den Kopf und zu seinem völligen Entsetzen floss Blut aus Sichels Kehle.

"Du hast den Tod sichtlich verdient." Eine vertraute Stimme ließ den Kämpfer herumfahren. Vor ihm stand ein heller Kater mit blauen Augen, die entschlossen aufblitzten. "Sei gegrüßt, Shadow."

"Joel! Was machst du hier?" Vollkommen entsetzt sah Shadow den jungen Kater an, den er bei seinem ersten Auftrag verschont hatte. Dennoch konnte er zwischen all dem Schmerz und Entsetzen ein gewisses Gefühl der Erleichterung nicht leugnen. Wie hätte er wohl reagiert, wenn der Kater des feindlichen Stammes bei einem der Aufträge ermordet worden wäre? Doch sofort verschwanden seine Überlegungen wieder, als sein Blick auf Sichels leblosen Körper in die Gegenwart zurückriss.

Joel nickte, als ob er sich diese Frage selbst stellen würde. "Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Eine seltsame Kätzin kam zu mir und hat gesagt, ich solle dich im Düsterwald suchen. Sie hatte etwas an sich, dass mir befahl, zu gehorchen. Sie meinte auch, ich würde drei Katzen finden und dass ich eine von ihnen töten solle, sonst wäre alles zu Ende. Das mir so etwas passiert. Jeder wird mich für einen Wahnsinnigen halten!"

Shadow starrte den hellen Kater entgeistert an. Diese fremde Katze musste gewusst haben, dass Mond sterben würde. Stand es also von Anfang an fest, dass ich sie töten werde? War das ihr Schicksal?

"Du solltest gehen.", miaute er Joel zu. "Und erzähl deinen Stammesgefährten lieber nichts hiervon."

Der helle Kater blinzelte irritiert. "Aber was-"

"Vertrau mir!" Shadow sah ihn eindringlich an. "Irgendwann werde ich es dir erklären. Und jetzt geh!"

Joel zögerte und sagte: "Ich bin für dich da. Solltest du Hilfe brauchen, komm mich gerne besuchen." Damit drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Shadow sah ihm schweigend hinterher.

So vieles war in dieser Nacht passiert. Kralle war gestorben und er hatte Nachtigall kennengelernt. Er hatte Mond umgebracht sowie Joel Sichel. Und all diese Dinge waren Schicksal. Unvermeidbar. Vorherbestimmt. Doch sie waren ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Ende, wenn auch nur ein kleiner. Wenn er nur wüsste, was dieses Ende war und wovon.

Auf einmal streifte weiches Fell das von Shadow. Er sah auf und begegnete Nachtigalls Blick, doch er hatte nicht mehr die Kraft oder den Willen, sich zu wundern, wo sie plötzlich herkam. Die Augen der beigen Kätzin leuchteten mitleidig. "Alles wird gut. Mond wird es dort, wo sie jetzt ist, besser gehen.", murmelte sie und half Shadow vorsichtig auf die Pfoten.

Der schwarze Kater starrte zum Himmel empor. Die weißen Sterne leuchteten wie einzelne Sprenkel auf dem dunkelsten Pelz, den er je gesehen hatte. Vielleicht hatte Nachtigall recht. Vielleicht war Mond einer dieser Sterne und wachte über ihn. Wird alles wieder gut werden? Nur wie soll das möglich sein?

Nachtigall legte Shadow sanft ihre Schwanzspitze auf die Schulter und lächelte. "Komm mit, Shadow. Lass uns gehen."

Ohne zu widersprechen, ließ der Kämpfer sich von ihr in die Dunkelheit leiten, die sie wie eine schwarze Wolke umhüllte. Shadow hatte das Gefühl, als würde er alles hinter sich lassen. Nicht nur Monds und Finsternis' Tod. Auch Gewitters Verrat und den ständigen Druck, um sein Leben kämpfen zu müssen. Er würde sich von Nachtigall überall hinführen lassen. Hauptsache weg. Weg vom Stamm der Nacht.

Zeit der Wahrheit (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt