Neue Sichtweise

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Shadow schlug die Augen auf und seufzte verärgert, als er den finsteren Wald und die knochigen Bäume erkannte. Wieso kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Prüfend musterte er die kleine Lichtung, die auf irgendeine Weise erleuchtet war. Mond und Sterne gab es in dieser Gegend schließlich nicht.

Auf einmal tauchte eine dunkle Gestalt am anderen Ende der Lichtung auf. "Was soll das, Kralle? Wir sind fertig." Die hellgraue Kätzin schnurrte amüsiert. "Hast du es schon vergessen? Ein Mond ist um.", antwortete sie und warf Shadow einen auffordernden Blick zu. Das Fell des schwarzen Katers sträubte sich. Sie hatte recht, jetzt musste er eine Entscheidung treffen. Doch das fiel ihm alles andere als schwer. Er hatte nur eine Nacht gebraucht, um sich sicher zu sein, dass er diese Kätzin nie wieder sehen wollte.

"Dann sag ich es dir halt nochmal: Ich werde nicht wieder dein Schüler!"

Kralle schloss kurz ihre Augen. "Hast du es immer noch nicht verstanden?" Ihre Stimme nahm plötzlich einen anderen Ton an. Sie war kalt und in ihren Augen leuchtete etwas, das Shadow noch nie zu vor gesehen hatte. "Hast du es immer noch nicht verstanden!", wiederholte sie mit lauter Stimme. "Ich war es. Ich war es, die den Mord an All arrangiert hat. Ich habe auch deine Mutter vergiften lassen! Alles nur, damit du erkennst, dass du nicht an mir vorbeikommst."

Shadow erstarrte. Kralle hatte seine Mutter vergiftet? Sein Magen zog sich zusammen, bis er das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Ich hätte es ahnen sollen! Wer sonst sollte Finsternis tot sehen wollen? Die Trauer kam erneut in ihm hoch und er musste das Verlangen unterdrücken, nicht zurückzuweichen. Wie konnte sie das tun? Wie konnte sie meine Mutter töten? Und das alles nur, weil ich nicht wieder ihr Schüler werden wollte! Alles nur wegen dieser verfluchten Macht! Hätte ich früher eingewilligt, würde Finsternis noch leben. Ich habe sie umgebracht, weil ich so stur war!

Der schwarze Kater begann zu zittern. Es tut mir so leid! Es tut mir so leid! Ich wollte das nicht. Hätte ich das gewusst, hätte ich keine Sekunde gezögert.

Als ob Kralle seine Gedanken lesen könnte, fuhr sie mit einem Fauchen fort. "Du hast es selbst erkannt. Wärst du wieder mein Schüler geworden, hätte sie nicht sterben müssen. Es ist deine Schuld - schon wieder. Und es gibt nur einen Weg, damit du nicht alle deine Liebsten verlieren willst. Deine Schwester, deine Mutter...dein Vater. Du-"

"Was?", platzte Shadow heraus. Kralles Worte waren wie Schlag in seinen Magen. Das ergab einfach keinen Sinn! Wollte sie wirklich jede Katze umbringen, die ihm etwas bedeutete? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Du hast mir doch schon meine Mutter genommen, ist das nicht genug? Ist das nicht genug!

"Und was ist mit Mond? Worauf wartest du noch?" Kralle sah den Kämpfer erwartungsvoll an. „Wirst du sie töten, damit du am Leben bleibst? Sie ist doch deine Schwester, oder etwa nicht?"

Shadow entfuhr ein wütendes Schnauben. Zorn und Kummer kämpften in seiner Brust um die Überhand und ließen ihn abwechselnd heiß und kalt werden. Jeder Gedanke wollte gehört werden, doch er konnte nicht. Er konnte keinen einzigen fassen. „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?", fauchte er und verdrängte das ängstliche Zittern aus seiner Stimme. Überrascht über sich selbst hielt er inne. Ich hatte mich schon besser unter Kontrolle. Meine Emotionen haben immer Macht über mich. Was passiert mit mir?

Die Augen der hellgrauen Kätzin funkelten triumphierend auf. „Du merkst es selbst, nicht wahr?" Sie machte einen Schritt auf ihn zu, wobei Shadow versuchte, ihrem Blick so gut wie möglich auszuweichen. „Je länger du dich belügst, umso schwerwiegender sind die Folgen.", fuhr Kralle fort. „Du bist anders, Shadow. Aber auf eine gute Art."

Der schwarze Kater fuhr hoch. Gut? Nichts daran ist gut, langsam aber sicher nicht mehr ich selbst zu sein. Jedem um mich herum das Leben zu ruinieren und von allen einfach nur als ein Klotz am Bein angesehen zu werden. „Was genau möchtest du? Ich will diese Kräfte nicht. Wenn du sie möchtest, dann nimm sie dir!"

Kralle seufzte enttäuscht und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.", miaute sie ernst. „Außerdem solltest du dankbar sein, dass du diese Kräfte erhalten hast. Überleg doch mal, wo du ohne sie wärst. Du wärst kein Kämpfer und -"

„Und meine Mutter wäre nicht tot! Auch All und Gelb nicht! Ich müsste Mond ohne diese verdammten Kräfte nicht töten. Wofür sollte ich bitte dankbar sein?" Shadows Stimme wurde immer lauter, bis er sich mit gesträubtem Fell und ausgefahrenen Krallen vor seiner ehemaligen Ausbilderin wiederfand. Er zuckte zusammen.

Doch anstatt eingeschüchtert zu sein, lachte Kralle. „Du ahnst nicht einmal im geringsten, wie mächtig du bist." Sie beugte sich zu dem schwarzen Kater vor, bis ihr Atem sein Ohr streifte. „Und wenn du denkst, dass alles endet, nur weil du es willst, dann bist du immer noch das naive ängstliche Junge von damals.", flüsterte sie und zog ihren Kopf wieder zurück." Mond ist wegen dir und deinen Kräften in Gefahr, doch noch ist nichts entschieden. Diese Kräfte gehören zu dir! Es ist deine Bestimmung, Shadow! Je eher du das akzeptierst, desto schneller kannst du ihr Leben retten! Keiner von euch muss sterben."

Geschockt trat Shadow zurück. Jedes einzelne ihrer Worte hallte in seinem Kopf wieder. Ich muss sie nicht töten? Wir müssen nicht sterben? Kann das...Kann das wirklich sein? Er wusste, dass es Wahnsinn wäre, sich wieder auf Kralle einzulassen, doch alles in ihm flehte nach einem Ausweg. Einem Ausweg aus diesem Alptraum. Er sah zu der hellgrauen Kätzin auf. "Wie?"

„Es gibt nur eine Katze, die dir helfen kann, mit deiner Kraft umzugehen.", flüsterte Kralle. „Und das bin ich. Werde wieder mein Schüler, dann kann ich dir versichern, dass deine Schwester und dein Vater überleben werden."

_____

Das dunkle Rot des Abendhimmels verschmolz gerade mit dem Sonnenlicht zu einem leuchtenden Orange, als Shadow erschöpft aus dem Beschützerbau trat. Vor ihm tobten Ratte und Fledermaus über den gefrorenen Boden und versuchten, sich gegenseitig in den Schwanz zu beißen. "Verschwinde aus meinem Lager!", jaulte Fledermaus, während sie ihrem Bruder mit eingezogen Krallen bearbeitete.

Der rote Kater mit den hellen und schwarzen Sprenkeln stieß sie wütend von sich. "Du bist hier der Eindringling! Der Stamm der Nacht lässt sich nichts sagen."

Mit nachdenklichem Blick betrachtete Shadow die beiden. Hatte Ratte recht? Vielleicht ließen sie sich wirklich nichts von anderen vorschreiben. Hatte der Stamm des Lichts ihnen überhaupt jemals etwas getan oder hatten sie einfach beschlossen, den anderen Stamm so sehr zu hassen, dass sie sich jeden Neumond gegenseitig ermordeten? Was wäre, wenn all die Schauergeschichten aus dem Beschützerbau nicht stimmten?

Schnell schob Shadow diesen Gedanken beiseite. Er sollte nicht an seinem Stamm oder Düster zweifeln, wo der ihm doch so viele Chancen gegeben hatte. Und er sollte erstrecht nicht an den Worten seiner Mutter zweifeln. Wenn er ihnen keinen Glauben mehr schenken würde, wenn niemand das mehr täte, dann würde sich schon bald niemand mehr an sie erinnern. Und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Stamm Finsternis ganz vergessen hätte, bis Shadow sie vergessen hätte. Er schloss seine Augen und atmete tief durch. Das wird niemals passieren. Sie ist ein Teil von mir. Sie lebt in mir weiter!

Vom Rand der Lichtung kam Schnipp auf ihn zu und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. "Was stehst du denn hier rum? Kümmer dich weiter um den Beschützerbau oder sollen meine Jungen sich erkälten! Na los, beeil dich gefälligst! Mach dich nach all den Problemen, die du verursacht hast, wenigstens mal nützlich.", knurrte die rote Kätzin.

Beschämt neigte Shadow den Kopf. Er wollte sich gerade bei den anderen Kämpfern nach Arbeit erkunden, als er plötzlich spürte, wie sich etwas in ihm regte. Wut brodelte in ihm auf, bis selbst das kleinste Stückchen seiner Vernunft zerstört war. "Wenn es dir nicht schnell genug geht, dann hilf mir."

Die Beschützerin schnappte empört nach Luft. "W-wie kannst du es wagen?" Sie öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen. Wenige Herzschläge verharrten die beiden Katzen sich gegenüber, bis Schnipp ohne ein weiteres Wort davonlief. Shadow blinzelte überrascht. Schnipp war nicht für ihr Verständnis bekannt, warum also gab sie so schnell auf?

Aber der schwarze Kater konnte sich nicht weiter darüber wundern, er musste den Bau vor Nachteinbruch gesäubert haben. Während er erneut zum Mosshaufen lief, fiel ihm auf, wie Gewitter fröhlich plaudernd mit Blut am Lagereingang saß. So glücklich habe ich ihn noch nie gesehen...Ein gutes Gefühl durchströmte Shaodw, als ihm aufging, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nie wieder wird jemand wegen mir sterben! Auch wenn ich dafür Kralles Schüler sein muss.

Zeit der Wahrheit (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt