Gebrochener Stolz

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Der kalte Wind pfiff durch Shadows dichtes Fell. Als das Lager in Sicht kam, schluckte der Kater. Es fühlte sich an, als würden seine Pfoten so schwer wie Steine sein. Bei jedem Schritt könnte er keuchen, so viel Überwindung kostete es ihn. Der Gedanke an seine Stammes-Gefährten jagte ihm Angst ein. Es war, als wären sie für ihn eine Bedrohung. Sogar größer als ein ausgewachsener Dachs, der mit gebleckten Zähnen und kampfbereit vor ihm stand. Shadow hatte noch nie einen solchen gesehen, aber anhand der vielen Geschichten konnte er sich gut einen vorstellen.

Doch in dieses Moment konnte Shadow an nichts anderes denken, als an das, was vor ihm lag. Wie sollte er es allen erklären? Wie sollte er sich vor Gewitter rechtfertigen? Wie vor Finsternis entschuldigen? Und wie Mond stolz machen? Seine Gedanken kreisten um seine Familie. Sie hatten bestimmt jemanden getötet. Der schwarze Kater sah es förmlich vor sich, wie Mond einer Katze die Krallen übers Gesicht zog. In den Trainingseinheiten hatte sie Shadow jedes Mal überlegen geschlagen und jedes Mal hatte er zur Strafe bis zum Morgen üben müssen. Er erinnerte sich noch gut an die Qualen, die er erlitten hatte, als sein Körper ihn nach einer Pause anflehte. Aber Frost passte auch jedes Mal auf, was es ihm unmöglich machte, aufzuhören und nach Luft zu ringen.

Shadows Pfoten trugen ihn jetzt immer näher an den Eingang des Lagers. Sein Pelz fing vor Nervosität an zu zucken und die Luft in seinen Lungen wurde dünner. Fürchte ich mich vor meiner eigenen Familie? Wie tief kann ich noch sinken? Neben der Angst bohrte sich noch Trauer in das Herz des schwarzen Katers. Seine Familie sollten die Katzen sein, die auch neben ihm stehen, wenn er versagte. Vielleicht würden sie das auch, aber trotzdem nagten Zweifel am ihm.

Shadow tappte zwischen den Felsen durch, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Dann sah er sich im Lager um.

All saß mit geschwollener Brust vor der toten Esche und erzählte Rauch, Narbe und Eule offenbar von seinem Auftrag. Weiter abseits lag Schatten im Schutz einiger Zweige, ihre Pfoten blutgetränkt. Jetzt entdeckte der Lehrling Dunkelheit und Black, die mit funkelnden Augen vor dem Kämpferbau saßen. Er lief zu ihnen.

"Black! Dunkelheit!", rief er ihnen aufgeregt zu.

Der braungetigerte Kater sah überrascht auf. Als er Shadow erkannte, fing er an zu schnurren. "Shadow, der Nacht sei dank. Dir geht es gut."

Dunkelheit schien ebenfalls erleichtert, denn sie lockerte mit einem Seufzer ihre Schultern. "Wo ist Mond? Hast du sie schon gesehen?", fügte sie mit einem Blick über Shadows Schulter hinzu.

Der schwarze Kater blinzelte unsicher. "Ich weiß es nicht. Sie kommt bestimmt gleich." Er log nicht. Er vertraute fest darauf, dass seine Schwester jeden Moment wohlauf ins Lager kommen und ihnen von ihrem ersten Auftrag erzählen würde.

Black nickte zustimmend. "Genau, aber jetzt erzähl. Hast du jemanden erwischt?" Er sah Shadow erwartungsvoll an, der beschämt auf seine Pfoten starrte.

"Ich habe niemanden gefunden.", log er rasch. Er konnte seinen Freunden doch nicht sagen, dass er zu feige war, zu töten. Seine Gedanken schweiften an den Moment zurück, in dem er Joel verschont und hatte fliehen lassen. Der helle Kater hatte ein gutes Herz. Shadow würde es nicht über sich bringen können, jemanden unschuldiges zu töten, was auch eigentlich nicht verkehrt sein sollte. Aber er wusste auch, dass genau das in seinem Stamm nicht erwünscht war.

Mit mitleidigem Blick strich Dunkelheit ihm mit der Schwanzspitze über die Schulter. "Das ist doch nicht schlimm. Black hat auch niemanden getötet." Ihre sanfte und aufmunternde Stimme erweckte in Shadow etwas Mut und er lächelte ihr dankbar zu.

Dieser fauchte sie wütend an. "Du hast versprochen, zu sagen, dass ich gegen zwei Kämpfer gleichzeitig kämpfen musste und sie aus Angst weggelaufen sind."

Als dem Kater bewusst wurde, dass es im Lager leise geworden war und jeder ihm zuhörte, zog er beschämt den Kopf ein. "Du bist so ein Mäusehirn.", knurrte er Dunkelheit beleidigt zu, ehe er in den Lehrlingsbau schlüpfte. Die herumstehenden Katzen fingen leise an zu schnurren. Shadow konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Seine Stimmung lockerte sich allmählich und das Gefühl, nicht allein zu sein, heiterte ihn auf.

Plötzlich ertönte Pfotengetrappel. Shadow beobachtete, wie zwei Katzen ins Lager gestürmt kamen. Finsternis und Mond.

Aufgeregt rannte der schwarze Kater auf sie zu. Seine Mutter hatte zerzaustes Fell und ihre Augen leuchteten wild. Monds Flanke war von ein paar blutigen Kratzern verziert, aber ihre Ohren waren begeistert aufgestellt. Als sie Shadow erkannte, sprang sie vor und rieb ihre Schnauze an seiner. "Du lebst!"

Auch Finsternis schmiegte sich erleichtert an ihren Sohn. "Bei Monds Berichten vom Training habe ich mir schon Sorgen gemacht.", sagte sie amüsiert.

Shadow warf Mond einen kurzen Blick zu, ehe er antwortete: "Wie nett von ihr. Aber jetzt erzählt: Wie war es?"

Der Blick der getüpfelten Kätzin erhellte sich schlagartig. "Oh, es war großartig. Finsternis und ich haben einen dieser Krähenfraßfresser in der Nähe der Grenze gefunden. Er hat uns nicht einmal kommen sehen, so schnell waren wir. Einfach unglaublich! Wie war es bei dir? Hast du dich an geschlichen oder bist einfach direkt in die Offensive gegange?" Ihre Worte zogen Shadow nur noch mehr runter. Kann ich sie so überhaupt stolz machen? Nein, ich muss es ihnen sagen, egal wie sie reagieren. Der schwarze Kater holte tief Luft, ehe er zur Antwort ansetzte. "Na ja, ich habe niemanden gefunden.", presste er mit einer leisen und zittrigen Stimme heraus.

Er erwartete, dass Finsternis ihn anfauchen würde, aber seine Mutter schüttelte nur enttäuscht den Kopf und miaute: "So wird das nichts, Shadow. So etwas kannst du dir hier nicht leisten! Kannst du nicht mehr wie deine Schwester sein?"

Diese Worte trafen Shadow härter als jeder Schlag. Sein Herz fing an zu schmerzen, als Finsternis seufzte, davontappte und sich zu ihrem Bruder Donner setzte, der gerade einer Geschichte von Sichel lauschte. Plötzlich unterbrach Mond seine Gedanken. "Es tut mir so leid, Shadow. Ich wollte nicht-"

"Nein, schon gut.", fiel der Kater ihr ins Wort. "Ich möchte jetzt gehen." Damit drehte er sich um und tappte niedergeschlagen davon.

Auf einmal hörte er ein leises Flüstern. "Shadow hat niemanden getötet? So ein Versager."

Er wagte es nicht, den Kopf zu bewegen und schielte vorsichtig in die Richtung, aus der Stimme gekommen war. Er entdeckte Tornado und Schatten, die sich an den Rand der Lichtung zurückgezogen hatten und leise tuschelten.

Auch Klaue und Eule warfen Shadow einen vorwurfsvollen Blick zu. Der schwarze Kater zog den Kopf ein. Er wollte hier weg. Wie konnten seine Stammesgefährten nur so etwas sagen? Wie konnte seine Mutter so etwas sagen! Voller Scham und Trauer lief er auf den Lehrlingsbau zu. Er wollte nur noch seine Schnauze im Moos vergraben und bis zum nächsten Einbruch der Nacht keinen Schritt mehr gehen.

Doch plötzlich stürmte Kratzer, einer der Hüter, ins Lager und jaulte aufgeregt.

"Füchse! Sie kommen! Sie sind gleich da!"

Zeit der Wahrheit (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt