Kapitel 12 - Home

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Warum hatte ich das getan?
In meinen Ohren rauschte es. Mir war nach Schreien. Oder jemandem weh tun. Das könnte auch helfen. Ich wollte wegrennen. Einfach raus hier. Stattdessen saß ich auf dem Boden, den Rücken an Natalys Bett gelehnt und betrachtete die Bilder über ihrem Schreibtisch, während ich dem Schmerz nachlauschte, denn einmal mehr hatte ich mir weh getan. Ich hätte es nie laut gesagt, aber der Schmerz hinderte mich am durchdrehen.

Ich gab Julian die Schuld. Es war leicht auf ihn wütend zu sein und ich musste mich nicht fragen, ob ein Teil von mir es vielleicht auch hatte erzählen wollen. Und warum.
Im Moment fühlte es sich einfach schrecklich an, dass Nataly von meinem Geheimnis wusste und ich nicht vorhersehen konnte, was sie damit machen würde - außer mich mit großen Augen anzustarren, in denen das Wasser bis zur Oberkante stand.

Ihre Mutter hatte mich überredet zu bleiben. Zumindest bis mein Onkel kam, um mich abzuholen. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber nun saß ich hier auf dem Boden und Nat blieb auf dem Bett. Ich brauchte zumindest diesen kleinen Abstand.
Kurz öffnete ich die Faust, betrachtete meine in Verbandsmaterial eingewickelte Handfläche. Irgendwann im Badezimmer, während ich mit Gedanken und Gefühlen kämpfte, hatte ich meine Fingernägel scheinbar deutlich zu fest in die Narbe gerammt. Ich hatte es nicht einmal gemerkt.
Erst als etwas Rotes auf die weißen Fliesen getropft war, hatte ich es realisiert und aufgehört.
Als ich damals in Julians Küche das Glas zerdrückt hatte, hatte der plötzlich einsetzende Schmerz mich aus meiner Blase befreit. Mit einem Schlag war die Wut verpufft. Als wäre der Ballon geplatzt und ich hatte mich unfassbar erleichtert gefühlt. Mein Unterbewusstsein schien darauf gehofft zu haben, aber es hatte nicht gereicht. Es war ein wenig Luft entwichen, aber noch immer fühlte ich mich aufgebläht und kribbelig. In meinen Ohren hörte ich noch immer das Wellenrauschen.

„Why didn't you tell me?", durchbrach Nataly die Stille.
„Like I said...", setzte ich an. Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich auf meine Atmung zu konzentrieren, um das Kribbeln in Schach zu halten. „I didn't want people to look at me like you did. Do."
Sie schniefte leise.
Ich rieb mir die Stirn und unterdrückte ein genervtes Stöhnen. „Seriously, Nat... "
„Sorry, I..." Sie brach ab.
„I just didn't want to be the 'girl who lost her parents' and all these pityful looks. I had that at home and I hated it."
„Hmm..", machte sie und rutschte vom Bett, setzte sich neben mich. „I'm glad you told me."
„Great." Es klang zynischer als beabsichtigt. Das 'I'm not' schluckte ich wieder herunter.
„I promise not to tell anyone, but..."
„But what?"
„I assume you haven't told Destiny or Marica... does Paul know?"
„Definitly not."
„Will you tell them?"
„I don't know!"
„Why not?"
„Nat! Seriously!"
„Okay, okay, you don't want to talk about it." Sie zog die Schultern hoch bis zu ihren Ohren. „It's just... If my mum would..." Sie konnte es nicht einmal aussprechen. „I would be a wreck. A sobbing wreck."
„And you're wondering how I can be so cold." Ich schnaubte abfällig.
„No! I mean... I never saw you cry. How are you so strong?"
„Well, Zach did...", erwiderte ich leise.
„What?" Mit großen Augen starrte sie mich an. „You told Zach?"

Ich schüttelte den Kopf, versteckte das Gesicht in meinen Händen und verfluchte mich jetzt schon für das, was ich erzählen würde, aber aus mir unerklärlichen Gründen, sprudelte es heute aus mir heraus.
„Remember when I went MIA at Matt's Party?"
Abrupt sprang Nataly auf.
„You weren't making out with Zach, were you? Oh god, I noticed you two were holding hands when you came back. I did not imagine it! Right? Oh, I knew Zach liked you! That's why he looked at you like that at McDonalds! I'm so stupid! Why would he ever like me? I. Knew. It." Wie ein Tiger im Käfig lief sie in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. „So of course you told him first. Why didn't I see it?"
„Nat. Stop." Sie hielt kurz inne, straffte ihre Schultern und schloss die Augen.
„Okay, you can tell me... did you kiss Zach? Do you like him? Are you dating?"
„No! Nat! Shut up!" Ihr Wortschwall hatte mich gänzlich unerwartet überrollt, so dass ich einen Moment brauchte, um mich zu sammeln. „God bless... I certainly did not kiss Zach. Relax!"
Bewegungslos stand sie mitten im Raum. „You didn't?"
„No!" Ich raufte mir die Haare. Manchmal machte sie mich verrückt. „And I didn't tell him. I had a fucking panic attack and sobbed like a baby because Matt made a stupid comment about how hot my mum must be.", platzte es aus mir heraus. „And Zach happend to see it. He probably thought I was insane. Love and insanity kind of looks the same, I think..."
„Oh.", war alles, was sie darauf erwiderte.
Danach war Stille.
Sie starrte mich an. Ich starrte zurück.
Mein Herz schlug heftig gegen meinen Rippenkasten und das Rauschen in meinen Ohren schwoll immer weiter an. Oder wirkte es nur lauter, weil es plötzlich so still war?

Nach gefühlt 5 Minuten fiel Nataly plötzlich auf die Knie und schlang die Arme um mich.
Ich wollte instinktiv zurückweichen, aber da war das Bett.
Stocksteif ließ ich die Umarmung über mich ergehen, obwohl mein Inneres schrie und sie von mir weggestoßen wollte.
„I'm so sorry.", flüsterte sie, ließ mich aber immer noch nicht los.
„Mhmh...", machte ich und tätschelte unbeholfen ihren Rücken, in der Hoffnung, dass sie dann endlich loslassen würde. Ihre Arme blieben um mich verschlossen. Warum umarmten sich Menschen? Wie komme ich hier weg? „Please let me go.", presste ich hervor.
Sie wich zurück, sah mich an und schmunzelte.
„Are you sure you're german and not british?"
„What is it with you americans and this faszination for british people?"
„I'm just saying... they only show affection to men and pets. So I've heard."
„Well, for me it's only men. I'm not the pet type."
„Are all germans like that?" Nataly fand es sichtlich interessant und amüsant.
„You think it's funny how uncomfortable I feel right now?"
„Kind of. You will get used to it, though... since this is your home now and you're not getting rid of me."
„Okay, I need to leave now.", sagt ich halb spaßig und halb ernst gemeint und wollte mich erheben, aber Nat hielt mich zurück.
„Your secret is safe with me, I promise. But if you ever want to talk about it..."
„I don't."
„I mean, I would'nt really know what to say. It is just horrible and I can't even begin to understand how you feel."
„Nat." Ich zog eine Grimasse, die wohl eigentlich ein Lächeln werden sollte. „Just let it go."
„You're my best friend. And you're not even my only friend anymore." Sie grinste breit. „I'm glad you're here. "
Wie war das eigentlich passiert?
Rückblickend auf die letzten Monate fühlte ich mich einfach nur wie ein Passagier in meinem eigenen Leben. Es raste an mir vorbei, es passierte einfach und ich konnte einfach nur zusehen. Ich fühlte mich out of control und ich hasste das Gefühl. Ich meine, natürlich mochte ich Nataly, aber gerade war es mir einfach zu viel.
Ich nickte abwesend. „Yes. Thanks. But no more hugging, okay?", erwiderte ich.
„You will get used to it.", wiederholte sie noch einmal. Erleichtert atmete ich aus, als es an der Tür klingelte.

...

„Are you okay?"
Uncle Joe sah zu mir rüber. Mein Kopf lehnte ich an der kühlen Scheibe.
„Mh.", brummte ich nur und sah weiter stur aus dem Fenster.
„What happened to your hand?"
Ich betrachte meine Hand von allen Seiten, als müsste ich selber herausfinden, was er meinte.
„Just a little accident." Schnell wickelte ich den Verband ab. „See? Just a scratch."
Joe brummte etwas unverständliches und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
„You haven't been this quiet in a while." Ich unterdrückte ein Seufzen.
„I really don't want to talk about it.", sagte ich leise.
„Okay."
Das mochte ich an Joe. Als einziger in dieser Familie akzeptierte er mein Nein einfach. Er ließ mich in Ruhe. Daher geriet ich mit ihm am Wenigsten aneinander. Er machte immer wieder Anstalten mich in das Ranchleben integrieren zu wollen, aber er zwang mich nicht. Er wurde nicht müde immer wieder zu fragen, dennoch kommentierte er mein regelmäßges Nein darauf immer nur mit einem Achselzucken.
„Can I... go play piano for a bit?", fragte ich als ich am Hof aus dem Auto ausgestiegen war.
Ich fühlte mich immer noch seltsam kribbelig und unruhig. Ich konnte jetzt nicht einfach auf mein Zimmer und die Nachtruhe einläuten. „I mean, it's late, but I just really need that right now."
„Don't ask me." Joe rückte seinen Hut zurecht. Manchmal fragte ich mich, ob er mit dem Ding auch schlief. „Maybe Sam will let you ruin his evening. Come on, kiddo."
Er drückte meine Schulter und schob mich Richtung Hauseingang.

„Dad! Dad!", hörte ich Lennis schon rufen, bevor wir überhaupt zur Tür hinein waren.
„It's time!" Lennis hüpfte aufgeregt auf und ab.
„Where's Mason?" Joe rieb sich den Bart und wechselte seine Jacke. Offensichtlich musste er noch in den Stall.
„Already in the stable. Can I come?" Seine Augen leuchteten.
„What's going on?", wollte ich wissen. Selbst Joe wirkte jetzt in Eile.
„Looks like you will have enough time to play the piano. Sam's probably not gonna be home for a few hours." Joe wuschelte mir über den Kopf – Gott, ich hasste es – und fuhr an Lennis gerichtet fort: „For now. But you're in bed by nine. No arguing."
Lennis zog einen Flunch, sprang aber trotzdem in seine Boots. Ich hatte immer noch keine Ahnung wovon sie sprachen. Hautsache ich konnte ans Klavier.
Ehe ich mich versah stand in allein im Flur. Verwirrt sah ich ihnen hinterher.
Ich kramte meinen Schlüssel heraus und ging direkt in Sam's Wohnung.
Im Dunkeln tapste ich durch den Raum, bis ich die Stehlampe fand. Ich hatte hier so viel Zeit verbracht, dass ich das Klavier auch blind fand.
Da ja irgendwie alle im Stall waren, beschloss ich einmal wieder meine alten Jazzstücke rauszuholen. Ich zog mein iPad aus der Tasche und war in kürzester Zeit so vertieft, dass ich völlig vergessen hatte, warum ich eigentlich unbedingt heute noch ans Klavier wollte.
Ich bemerkte kaum, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich, sobald ich die Töne von meinem früheren Lieblingslied anschlug und meine Stimme durch die Oktaven fließen ließ.
Meine Handfläche ziepte ein bisschen, aber ich ignorierte es einfach.
'Sophisticated Lady' erinnnerte mich immer an meine deutsche Oma. Wie sie im Wohnzimmer gesessen und gehäkelt und nebenbei zu Ella Fitzgerald mitgesummt hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen hat sie dabei von ihren wilden Tagen in Zeiten der amerikanischen Besetzung erzählt.
Es war eine der wenigen Erinnerungen, die ich noch hatte.
Mit geschlossenen Augen versuchte ich Leichtigkeit in den Höhen und gleichzeitig die Verbindung zur Bruststimme zu behalten, die Tiefen voll und warm hinzubekommen.
Ich tauchte in das Gefühl von früher ein und spielte mich durch die Ella Klassiker.
„Mhhh I got a crush on someone. Guess who? I've got a crush on you, sweetypie.", stimmte ich gerade das nächste Lied an, als ein Knall mich zusammenzucken ließ.
Erschrocken drehte ich mich um. Völlig aus meiner eigenen Welt gerissen, starrte ich Sam mit offenem Mund an, während mein Herzschlag gar nicht einsah sich von dem Schreck zu erholen.
Sam hatte die Augen zugekniffen und hielt eine Tasse in der Hand, die er offensichtlich versehentlich umgeschmissen hatte. Er stand in der Bewegung eingefroren vor seinem Tisch und ich wusste nicht, ob er das Gesicht verzog, weil es ihm peinlich war oder ob er sich den Zeh am Tischbein gestoßen hatte.
Oh Gott, wie spät war es? Und seit wann war er hier?
Ich fühlte mich ertappt. Ertappt, bei etwas intimen. Es fühlte sich so unangenehm an.
Als hätte ich ihm meine Kindheitserinnerungen auf einem Silbertablett serviert und gleichzeitig von einem Crush gesungen, den es doch gar nicht gab.
Sam atmete geräuschvoll aus, setzte die Tasse ab und zog einen Mundwinkel hoch. Es sollte wohl ein Lächeln werden.
„H-how... How long ..?" Nicht einmal ganze Sätze konnte ich noch formulieren.
Er zog die Schultern hoch, legte schuldbewusst den Kopf schief.
Ich ging davon aus, dass das bedeutete, dass er nicht nur zwei Sekunden zugehört hatte.
„Okay..." Tief durchatmen, Tilly. Es ist ja nicht so, als würde mir nie jemand beim Singen zuhören. Ich verstand mein eigenes Problem gerade nicht. „I should go." Mit aufeinander gepressten Lippen fing ich an meine Sachen einzupacken.
Mein Telefon lag auf dem Klavier. Als ich einen Blick darauf warf, sprang mir als erstes eine Nachricht von Sam ins Auge. Und danach die Uhrzeit.
Bereits vor 15 Minuten hatte er geschrieben, dass er nur kurz etwas holen muss. Kurz. Der Weg vom Stall hierher dauerte definitiv keine 15 Minuten.
Ich wollte es gerade wegstecken, als eine neue Nachricht reinkam.

Sam
I want to show you something.

Irritiert sah ich auf und blieb direkt an seinen blauen Augen hängen.
Mein Herzschlag wurde kurzzeitig beunruhigend arrhythmisch und ich überlegte, wann mich das letzte Mal eine Schrecksituation so aus der Fassung gebracht hatte.
„Now?", fragte ich ihn. Sam nickte.
Er hielt noch immer sein Telefon in der Hand.
„Oh... okay." Er bedeutete mir in Jacke und Schuhe zu schlüpfen. Kurze Zeit später liefen wir schweigend den Weg zum Stall hinunter und ich wunderte mich, dass ich nicht eine Sekunde gezögert hatte mitzukommen.



Schön, dass ihr noch mitlest <3


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