Kapitel 4 - Roots before Branches

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„Ich will nicht, dass du gehst."
Erschrocken drehte ich mich um.
Ich hatte Julian gar nicht kommen hören. Tief in Gedanken versunken hatte ich aus dem Fenster gestarrt und wusste nicht, wie ich mit der nächsten großen Veränderung in meinem Leben klarkommen sollte.
„Erschreck mich doch nicht so.", fuhr ich ihn an, bevor ich die Arme sinken ließ.
„Ich will auch nicht weg.", flüsterte ich und vermied es ihn anzusehen.
Vor 2 Monaten war ich noch ein völlig normaler Teenager, mit völlig normalen Problemen und großen Ambitionen. Und nun fühlte ich mich, als hätte ich mein Leben in einer Schneekugel verbracht und jemand hatte diese einmal kräftig durchgeschüttelt.
Und als sich alles wieder beruhigte, musste natürlich nochmal geschüttelt werden.
Ein dämlicher kleiner Dämon, der mit einem dreckigen Lachen immer wieder meine kleine Welt durchschüttelte und dabei dreckig lachte. So stellte ich mir das vor.

Morgen würde es für mich in die USA gehen.
Ich hatte eigentlich keine andere Wahl gehabt.
Alle Versuche sich dagegen zu wehren, waren gescheitert. Viele Treffen mit Christian später, hatte ich zähneknirschend aufgegeben.

Es war alles in die Wege geleitet.
Firmenanteile verkauft, das Haus leergeräumt und zum Verkauf eingesetzt.
Ich hatte das Haus nicht verkaufen wollen, aber was sollte ich mit einer Villa in Zehlendorf für mich allein?
Auch wenn ich mich oft wie die alleinige Bewohnerin unseres Hauses gefühlt hatte, es tatsächlich zu sein, war doch nochmal ein Unterschied. Überall sah ich meine Eltern.
Es fühlte sich trotzdem immer noch an, als würden sie gleich nach Hause kommen.
Als wären sie nur auf Dienstreise.
Auch wenn ich sie beerdigt hatte, mein Gehirn weigerte sich diesen Fakt zu akzeptieren.
Sich selbst zu belügen, war die sicherste Variante momentan.

Ich hatte mich trotzdem durchgerungen zu verkaufen. Es kann sich keiner vorstellen, was so ein Haus in Berlin mittlerweile Wert ist.
Ich hätte genug Geld mir bei meiner Rückkehr 3 Häuser zu kaufen. Ich könnte tun und lassen, was ich wollte - sobald ich volljährig war.

Mein Gepäck war zum größten Teil schon auf dem Weg nach Oakdale.
Ein Umzug war schon innerhalb Deutschlands stressig, aber mit all meinen Sachen den Ozean zu überqueren, war nochmal eine ganz andere Hausnummer.

Julian nahm meine Hand und zog mich zu sich.
Widerwillig ließ ich mich von ihm die Arme schließen.
Er lachte leise.
„Was ist so witzig daran?"
„Ich weiß, dass du es nie zugeben würdest, aber ich weiß, dass du mich auch vermissen wirst."
Richtig. Würde ich niemals zugeben.
Ich zuckte nur mit den Schultern und rührte mich ansonsten nicht.
Seine Arme schlossen sich fester um meine Taille.
Ich spürte seinen Atem an meinen Haaren.

Gewohnheit ist ein trügerischer Freund.
Ich hatte Julian nicht wegstoßen können. Seit dem Tod meiner Eltern war er immer um mich gewesen und war einfach da gewesen. Eine kleine, sehr hartnäckige Beständigkeit im Schneesturm.
Genauso wenig wie ich mir ein Leben ohne meine Eltern vorstellen konnte, konnte ich mir nun auch ein Leben ohne ihn vorstellen. Auch wenn es mir komplett widerstrebte, hatte ich mich in meinem Ausnahmezustand an Julian geklammert.
Das war nicht clever, Tilly. Ich kniff die Augen zusammen. Wirklich, gar nicht clever.

Und ich würde das alleine durchstehen – müssen. Ich wusste nicht, ob ich Julian vermissen würde oder nur das neue Normal, das sich um ihn herum geschaffen hatte. Grundsätzlich brauchte ich ihn nicht.
Ich war eben ein Gewohnheitsmensch, ich mochte keine Veränderungen. Ich sollte mich in Zukunft an nichts mehr gewöhnen, dann fällt nicht nur das Loslassen leichter.
Ich hasste Überraschungen, ich hasste diese Ungewissheit. Ich konnte nicht planen, mich nicht darauf vorbereiten, weil ich nicht wusste, was mich erwartete.
Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, ich wusste nur, dass die Reise mich zurück zu meinen Wurzeln führen würde.
2 Jahre back to the roots.
2 Jahre, dann war ich wieder hier.

Ich öffnete meine Augen wieder und mein Blick fiel auf Julians Pinnwand.
An einem der Sprüche, die er auf Post-It's gekritzelt hatte, bleib mein Blick hängen.

Lust is easy.
Love is hard.
Like is most important.
- Carl Reiner -

Ich mochte Julian... oder?
Zwischen all dem Stress und den Streits hatten wir uns kennengelernt und ich angefangen ihn irgendwie zu mögen. Auch wenn er ein anstrengender, überfürsorglicher, aber durchaus gutaussehender Klugscheißer war. Und auch obwohl er einen Faible für Mathematik – solche Menschen waren mir von Grund auf suspekt – und diese kitschigen Sprüche an der Wand hatte.
Und eigentlich mochte ich ihn auch, weil er wirklich gut küssen konnte. Ich presste instinktiv die Lippen aufeinander.
Nur hatten wir uns seit diesem einen Tag Ende November nicht mehr geküsst.
Ich sah zu ihm hoch. Eigentlich schade.
Julians dunkle Augen blieben an meinen Hängen. Im spärlichen Zimmerlicht wirkten seine Augen noch so viel dunkler als sonst.
„Hast du etwas interessantes gefunden?" Ein verhaltenes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Vielleicht.", antwortete ich ohne den Blick abzuwenden.

Ich legte meine Hand auf seine Brust, spürte seine Muskeln unter meinen Fingern zucken.
Wenn ich ihn noch einmal küssen wollte, wäre das jetzt wohl die letzte Chance.
Blitzartig umfasste er meine Hand, nahm sie von seiner Brust.
„Nicht." Julian hatte scheinbar meine Gedanken erraten.
„Warum?" Ich legte den Kopf schief. Die Worte kamen viel zu schnell über meine Lippen und ich hätte sie gern zurückgenommen.
„Bitte sieh mich nicht so an. Du wolltest nicht mehr. Du wolltest keine Beziehung. Du ziehst weg – weit weg! Du..."
„Julian!" Ich drückte seine Hand. „Atmen."
Er strich sich mit der freien Hand über die Augen und schüttelte den Kopf, musste aber dennoch zumindest kurz schmunzeln. Mit seinem Daumen strich er über meinen Handrücken.
„Ich hab dir gesagt, dass ich dich mag. Sehr. Mach es nicht noch schwerer. Das ist nicht fair."

Fair? Ich schnaubte. Nichts im Leben ist fair.
„Es ist doch nur ein Kuss."
Ich wollte einfach nicht über morgen nachdenken oder generell über die Zukunft.
Oder über mein Leben, was so gar nicht fair war.
Und ich mochte ihn ja auch irgendwie, wie ich gerade festgestellt hatte. Das konnte ich aber nicht sagen.

Etwas in seinen Augen flackerte. Er ließ meine Hand los, hielt meinen Blick aber fest.
Sein Mund öffnete sich, er schien nach Worten zu ringen. Bevor er etwas sagen konnte, stellte ich mich blitzschnell auf die Zehenspitzen und schob meine Lippen auf seine.
Ich spürte seinen Widerstand, blieb jedoch hartnäckig.
Konnten wir nicht mal für ein paar Minuten wieder normale Teenager sein?

Stück für Stück löste sich sein Widerstand in Luft auf. Julian erwiderte den Kuss und legte erneut seine Arme um meine Taille.
Seine Lippen waren warm und weich.
Er war immer noch ein wirklich guter Küsser, aber...
etwas fühlte sich anders an.

Ich löste mich wieder von ihm, suchte seinen Blick, als könnte ich darin die Antwort finden.
Doch Julian ließ mir keine Zeit weiter darüber nachzudenken und zog mich erneut an sich, küsste mich stürmisch und seine Hände brannten sich in meine Rückseite, bis er meine plötzliche Zurückhaltung offenbar spürte und den Kuss unterbrach.
Was zur...

Ich war überfordert.
Das war etwas zu viel.
Ich konnte nicht atmen.
Immerhin war es ein sehr angenehmer Abschied.
Aber das war einfach viel zu schwer für einen Abschiedskuss und für die eigentlich erwünschte, einfache Leichtigkeit zwischen knutschenden Teenagern.
Ich rang mir ein Lächeln ab und schob ihn etwas von mir.

„Lass uns schlafen gehen.", murmelte ich und er nickte nur nach kurzem Zögern.

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Meint ihr Tilly lernt es nochmal? 🤪

Auf gehts nach Kalifornien 🇺🇸

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