Kapitel 4 - Roots before branches (3)

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„Wir sind fast da."
1 ½ Stunden später saß ich immer noch mit verschränkten Armen auf der Rückbank von Joe's Truck und starrte aus dem Fenster. Ich hatte die ganze Fahrt über geschwiegen und mir die Landschaft angeguckt. Es war warm hier, fast 15 Grad und wenn es hier etwas nicht gab, dann war es Schnee. Es konnte sich niemand vorstellen, wie erleichtert ich war. Hier gab es nicht, das mich an meine Eltern erinnerte, nicht mal eine winzige Schneeflocke.
Die Temperatur fiel hier eigentlich nie unter 5 Grad und die Landschaft war deutlich von Trockenheit gezeichnet. Alles sah so völlig anders aus als zu Hause. In der Ferne konnte ich Berge erkennen, wir passierten Flüsse und Waldstücke und der Highway führte uns durch die absolute Pampa.

Mein Blick fiel auf das große Schild, welches am Ortseingang stand.
Welcome to Oakdale
Cowboy Capital of the World

Yee haw.
Ich verzog das Gesicht.
Welcome to hell wäre passender gewesen. Was sollte eigentlich eine Cowboy-Capital sein?
Ich wusste ehrlich gesagt überhaupt nichts über Oakdale. Es klang jedenfalls nicht nach einer Stadt nach meinem Geschmack.
Ich wollte hier so wenig her, dass ich mir sämtliche Nachforschungen über meinen neuen Aufenthaltsort erspart.

Mein Onkel bog vom Highway ab auf die River Road und wir entfernten uns wieder von der Stadt.
Wie weit ab vom Schuss wohnte er eigentlich?
Ich konnte hier nicht einmal eine Bushaltestelle entdecken. Wie kam man denn bitte in die Stadt?
Tief durchatmen. Du bist 16. Mach einfach deinen Führerschein.
Ich versuchte nicht zu weit voraus zu denken. Tag für Tag überstehen und wenn ich zurücksah, war alles sicher schneller vergangen als gedacht und ich wieder auf dem Weg zurück nach Deutschland.
Ich konnte es jetzt schon nicht erwarten.
Das Klima würde ich allerdings gerne mitnehmen.

Als Joe abbremste, sah ich auf.
Wir parkten unter einem riesigen, alten Baum vor einem gelben Holzhaus.
River Ranch stand auf einem Holzschild am Tor neben dem Haus.
„Willkommen zu Hause." Mason hatte sich zu mir umgedreht und grinste.
Ich sah ihn nur verständnislos und angewidert an, bevor ich meine Sachen zusammensuchte.
Er und mein Onkel stiegen bereits aus. Mason öffnete meine Tür und bedeutete mir auszusteigen, während er sich verbeugte wie ein Butler.Dieses Kind hatten sie wohl einmal zu häufig auf den Kopf fallen lassen.

Es roch nach Regen.
Von weitem konnte ich ein Pferd wiehern hören.
Pampa. Pferde. Cowboys.
Na Halleluja.

Ich schnappte meine Sachen, gab mir einen Ruck und sprang aus dem Truck.
„Fuck.", entfuhr es mir. Reflexartig riss ich die Arme hoch und kniff die Augen zu.
Mason lachte laut los.
Ich war mit Schwung in einer Pfütze gelandet und das Dreckwasser war an mir hochgespritzt.
Nicht ausrasten, dachte ich, während ich die Hände zu Fäusten ballte und langsam die Augen öffnete.
„Punkte stehen dir gut." Erneut zwinkerte Mason mir zu.
Das war zu viel.
Mit einem wütenden Aufschrei versuchte ich das Wasser aus der Pfütze in seine Richtung zu treten, verfehlte ihn dabei aber knapp. War mir doch egal, wenn meine Füße nass wurden.
Lachend ging er in Deckung.
„Was macht ihr denn hier?" Mein Onkel hatte meine Koffer aus dem Kofferraum gezerrt und sah zwischen uns beiden hin und her.
„Nichts. Alles gut." Mason lugte hinter der geöffneten Autotür hervor.
Ich antwortete nicht, sondern konzentrierte mich darauf die Spritzer von meinen Klamotten zu wischen. Wer weiß, was für Flüche sonst aus meinem Mund gekommen wären.

Ich konnte meine Mutter quasi hören, wie sie mir nur ein scharfes Contenance! ins Ohr zischte.
Joe dagegen zuckte nur mit den Schultern und lief Richtung Haus. „Beeilt euch. Paige hat Essen gemacht."
Mit einem vernichtendem Blick lief ich an Mason vorbei und meinem Onkel hinterher.
„Hast du deine Koffer nicht vergessen?" Dieses Grinsen war wie festgewachsen in seinem Gesicht.
„Nein, hab ich nicht."
„Mason, nimm die restlichen Koffer bitte mit.", rief mein Onkel genau in diesem Moment.
„Was? Warum ich?" Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Weil ich es gesagt habe." Joe hatte gerade die Tür aufgeschlossen.
Ich schenkte Mason ein selbstgefälliges Lächeln und lief ins Haus.
Aber Moment... er würde doch nicht...
Schnell spähte ich nochmal aus der Haustür, um sicher zu gehen, dass Mason meine Koffer nicht noch in der Pfütze wälzte. Aber das war ihm offenbar noch nicht in den Sinn gekommen.

Das Haus hatte einen schmalen Flur von dem ein Gäste-WC abging und eine Tür, von der ich nicht wusste, wo sie hinführte. Vielleicht ein Büro?
Ich zog meine Schuhe aus, die Socken waren Gott sei Dank trocken geblieben und hängte meine Jacke an die Garderobe und betrat dann den eigentlichen Eingangsbereich. Ein großer, viereckiger Raum mit Tür zur Küche, einem Durchgang zum Wohnzimmer und einer Treppe, die nach oben führte.
„Da ist sie ja!" Meine Tante Paige kam aus der Küche gestürmt und mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Oh bitte nicht.
Stocksteif ließ ich mich von ihr in die Arme nehmen.
Paige war eine kleine, etwas mollige Frau mit einem blonden Bob und braunen Augen. Sie strahlte übers ganze Gesicht und schien hocherfreut mich zu sehen.
„Es tut mir ja so leid! Schön, dass du jetzt hier bist. Ich hoffe, du fühlst dich hier ganz bald wie zu Hause!" Sie löste sich von mir und nahm mein Gesicht in beide Hände. „Wie geht's dir, Liebes? Wie war dein Flug? Hat alles gut geklappt?", fragte sie mir Löcher in den Bauch. „Bist du hungrig? Nach der langen Zeit ganz bestimmt. Komm erstmal rein. Gott, bist du groß geworden!"
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie an und bevor ich überhaupt ansetzen konnte zu antworten, hatte sie mich auch schon in die Küche geschoben. Eine große Landhausküche mit einem rustikalen Holztisch in der Mitte, den Paige bereits gedeckt hatte. In einer Ecke entdeckte ich eine Kaffeemaschine und wusste genau, was ich jetzt brauchte, bevor ich überhaupt übers Essen nachdenken konnte.
„Lennis!", brüllte Paige. Erschrocken zuckte ich zusammen. „Tilly ist da! Kommst du bitte?!"
„Komme!", kam eine Stimme von oben, gefolgt von lautem Getrampel auf der Treppe.
Ein Blondschopf kam in die Küche gerauscht und blieb direkt vor mir stehen.
Zwei wache, braune Augen musterten mich durch ein paar eckige Brillengläser hindurch.
Das letzte Mal als ich Lennis gesehen hatte, war er 3 Jahre alt gewesen. Ich hätte ihn im Leben nicht wiedererkannt.
„Du siehst wirklich aus wie Mason!", stellte er mit offenem Mund fest. „Dad, du hattest recht!"
„Mason sieht aus wie ich.", korrigierte ich ihn. „Schließlich bin ich älter."
„So cool!" Wenigstens war ich nicht völlig verrückt – wir sahen uns tatsächlich extrem ähnlich.
„Aber du bist ganz sicher nur meine Cousine?"
„Ganz sicher." Ich verzog das Gesicht, eigentlich sollte es ein Lächeln werden.

Mason kam in die Küche und spähte in die Töpfe.
„Was gibt's zum Mittag? Ich verhungere!"
Paige legte ihre Schürze ab. „Hackbraten mit Kartoffelbrei und Gemüse."
„Mega!" Er setze sich an den Tisch, Lennis tat es ihm gleich. Joe drückte Paige einen Kuss auf die Schläfe und setze sich ebenfalls, während Paige den Braten aus dem Ofen holte und auf den Tisch stellte.

Ich stand immer noch deplatziert neben dem Tisch und beobachtete die Szene mit offenem Mund und hochgezogenen Augen. Wo war ich hier gelandet?
„Setz dich, Tilly!" Paige lächelte mir zu und deutete auf den freien Stuhl neben Mason.
Niemals würde ich mich neben ihn setzen, dann doch eher neben Lennis. Gott sei Dank standen 6 Stühle an dem Tisch.
Trotzdem rührte ich mich nicht.
„Kann... kann ich erst einen Kaffee haben?" Ich lächelte gequält. „Bitte?"
„Oh, du trinkst Kaffee?" Meine Tante sah sehr verwundert aus.
„Ähm... ja?" Warum sollte ich nicht?
„Ja, klar. Hier." Sie zeigte mir wo ich Kaffee und Filter fand und ich suchte mir eine Tasse aus, während sie Kaffee aufsetzte.

„Können wir jetzt endlich essen?", fragte Mason.
Alle sahen mich an. Widerwillig setzte ich mich neben Lennis, der mir seine Hand hinhielt.
Irritiert sah ich auf seine Hand, dann in sein Gesicht und wieder zurück.
Auch die anderen reichten sich die Hände und Mason schob mir seine über den Tisch entgegen.
„Wir beten vor dem Essen.", klärte mich Paige mit einem Lächeln auf.
Ich legte die Stirn in Falten. „Ich glaube nicht an Gott."
Alle starrten mich mit großen Augen an, eine merkwürdige Stille breitete sich aus.
Gott gab mir meine Eltern auch nicht zurück und wenn es einen Gott gäbe, dann wäre ich scheiße wütend auf ihn, dass ich jetzt hier sein musste. Danke für nichts.
Paige und Joe tauschten einen kurzen Blick, bevor er sagte: „Nun, wir jedenfalls schon, also..."
Er hob seine Hand, welche mit Paiges verschränkt war.
Das konnte doch nicht wirklich ihr ernst sein.
Ich verzog das Gesicht und gab Mason und Lennis die Hand, hörte aber nicht mal zu, wofür sie sich dort bei Gott bedankten, bevor alle in Windeseile die Hände wieder losließen und sich aufs Essen stürzten.
„Lasst Sam was übrig!" mahnte meine Tante.
Mason zog nur kurz die Augenbrauen zusammen und murmelte etwas Unverständliches, bevor er unbeirrt weiter aß.

Mit großen Augen sah ich ihnen dabei zu und wartete, dass der Kaffee endlich durchgelaufen war.
Ich vermisste meinen Vollautomaten.
Mein Mittagessen allein. Und meine Ruhe!

Und wer war eigentlich Sam?

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