Kapitel 5 - Merry Christmas, Darling! (3)

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Nachdem ich geschlagene fünf Minuten in meinen Zimmer auf und ab gerannt war, raste ich die Treppe wieder runter, sprang in Jacke und Schuhe und schmiss diesmal die Haustür hinter mir zu.
Ich war, gelinde gesagt, außer mir vor Wut.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinsollte. Die letzten Tage hatte ich mich nicht wirklich von der Ranch wegbewegt, also rannte ich zu dem einen Ort, den ich kannte – der Pferdestall.

Meine Lungen brannten, genau wie meine Augen.
Der Stall war verlassen, alle Pferde waren bereits auf den Wiesen. Gott sie Dank mussten die Mitarbeiter an Weihnachten nicht arbeiten.

Ich drehte mich um meine eigene Achse, suchte den perfekten Ort, um mich zu verstecken und entschied mich kurzerhand die Leiter zum Heulager zu erklimmen. Zumindest waren die Heuballen weich genug, dass ich mich nicht wieder ernsthaft verletzte, wenn ich auf sie einprügelte.

Wie konnte er es wagen, das Geschenk meiner Mutter einzuheimsen und es mir vor allen anderen zu überreichen?!

Ich war so wütend, ich hatte es nicht einmal ansehen können. Ich hatte das Geschenk auf mein Bett gefeuert und mich darauf konzentriert nicht völlig auszuflippen, die Kontrolle zu behalten. Hat nicht funktioniert. Da die Chance sehr groß war, dass ich schnell zur Scream Queen des Hauses hätte werden können – und das an Weihnachten – hatte ich mich entschieden das Haus zu verlassen. Und zwar schnell.

Atmen, Tilly. Tief durchatmen.

Ich rang nach Luft, was ich meiner bescheidenen Fitness zuschrieb, nachdem ich ja wie eine Irre hierher gerannt war.
Ich wollte jemandem weh tun, sehr doll weh tun. Das kleine Teufelchen auf meiner Schulter feuerte mich an, während der Kritiker in mir mich immer noch zur Ordnung rief.

Meine Augen füllten sich mit Wasser, heftig blinzelte ich dagegen an.
Ich hasste dieses Weihnachten. Ich hasste diese Familie. Ich hasste mein Leben. Ich hasste alles! Jede Faser meines Körper war mit Hass erfüllt.

Mit einem wütenden Aufschrei trat ich volle Wucht gegen den nächstgelegenen Heuballen. Der war bei weitem nicht so weich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nun laut fluchend und wütend darüber, dass er meinem Fuß weh getan hatte, schlug ich auf ihn ein - wieder und wieder, bis meine Hände so sehr schmerzten, dass ich es nicht mehr aushielt.

Ich lehnte mich gegen den Ballen und sank in die Hocke, während ich meine sehr stark geröteten und zittrigen Hände begutachtete.
Die Tränen liefen mittlerweile unaufhaltsam über mein Gesicht.

Abgesehen davon, dass ich keinen Bedarf mehr hatte, zurück ins Haus zu gehen, konnte ich mich so auch auf keinen Fall mehr blicken lassen. Ich versuchte mich zu beruhigen, mich aufs Atmen zu konzentrieren. Mit geschlossenen Augen atmete ich ein und geräuschvoll wieder aus, bis ich die Augen schlagartig wieder aufriss. Ich konnte ihn quasi hören, wie er mich daran erinnerte zu atmen und plötzlich wusste ich genau, was ich jetzt brauchte. Aus der Kängurutasche meines Pullovers zog ich mein Telefon hervor.

Angespannt lauschte ich dem Freizeichen.
„Tilly?", fragte er hörbar irritiert.
„Hi Julian.", schniefte ich. Es war mir unangenehm, wirklich sehr unangenehm, dass ich ihn anrief, weil ich ... okay, ich musste es aussprechen.
„Ich bin verzweifelt!", platzte es aus mir heraus. „Ich hasse es hier. Ich will hier weg."
„Auf einer Skala von eins bis Scherben in der Hand – wie schlimm ist es?"
Ich lachte etwas erstickt und schniefte erneut, wischte mit der freien Hand die Tränen weg.
„Wenn du meine Hände jetzt sehen könntest..."

„Warte! Hände? Plural?!"

Gequält rieb ich mir übers Gesicht. „Ja, Hände." Sie brannten wie Feuer. „Das war keine Absicht.", setzte ich hinterher. Lüge.

„Tilly, man..." Ich hörte ihn seufzen. „Das wird jetzt nicht zur Gewohnheit oder?"
„Ich weiß nicht, was du meinst."
„Als ob ich nicht gesehen habe, wie oft du auf deiner Naht rumgedrückt hast."

Ich schwieg.

„Du kannst inneren Schmerz nicht durch körperlichen Schmerz auslöschen." Er seufzte erneut. „Versprich mir, dass du dir jemanden zum reden suchst nach den Feiertagen, okay?"
Ich zog eine Grimasse. „Okay." Er hatte nicht Therapeut gesagt. „Versprochen."

„Wie geht es dir sonst?", fragte Julian leise.
„Müde.", antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Was machst du eigentlich schon so früh auf? Bei euch ist es doch erst.... kurz vor 7?"
„Lennis wollte Geschenke auspacken." Damit hatte ich meine Überleitung. Nach kurzem zögern erzählte ich Julian warum ich so wütend war. Ich erzählte von dem knarzenden Bett, Weihnachten in der Kirche, von dem nervigsten Menschen der Welt – Mason, natürlich, vom Geschenke auspacken mit der ganzen Familie und dem Geschenk meiner Mutter.

Schweigend hatte er zugehört.
Geräuschvoll atmete Julian aus und suchte offenbar nach den richtigen Worten.
„Das... war nicht cool. Auch wenn ich die Idee eigentlich schön finde.", sagt er schließlich.
„Wie konnte er mir das bitte vorenthalten, dass er es gefunden hat?!"
„Ach das find ich gar nicht so schlimm. Und Tilly... ihr habt euch im Leben zwei oder drei Mal gesehen, die wissen überhaupt nicht wie du tickst. Vielleicht... wollten sie, dass die ganze Familie bei dir ist? So als Zeichen, dass du bei ihnen Halt suchen kannst in solchen Momenten?"
„Niemand hätte das toll gefunden!", warf ich entrüstet ein. „Das ist doch scheiße, wenn alle einen anstarren. Und warum sollte ich bei Ihnen Halt suchen?"
„Ganz ruhig. Ich wollte dich nur dazu animieren, dir auch mal die andere Seite der Medaille anzusehen."

Ich gab ein undefinierbares Geräusch von mir. Meine Nase juckte so sehr von diesem ganzen Staub hier oben.
„Ich mein ja nur... das einzige, das ihr aktuell gemeinsam habt, ist die Trauer um deine Mutter."
Meine Unterlippe bebte. Schnell biss ich drauf.
Im Hintergrund hörte ich Stella kreischen.

„Stör ich eigentlich?"
„Wir sind gerade fertig mit dem Weihnachtsessen.", beruhigte er mich. „Aber ich fürchte, ich muss wieder zurück zu der Meute."
„Grüß schön.", meinte ich. „Und danke.", setze ich hinterher.
Julian atmete schwer. „Du darfst gerne öfter anrufen."

„Du fehlst mir.", schob er leise hinterher, als ich nichts darauf antwortete.
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Das war so hochgradig unangenehm.
„Ich... ja." Nicht stammeln! „Ich hätte Weihnachten definitiv lieber bei euch verbracht."

„Schick mir mal ein Bild von der tollen Ranch." Er lachte.
„Mach ich."
„Frohe Weihnachten, Tilly."
„Frohe Weihnachten, Julian."

Nachdem wir aufgelegt hatten, war ich ruhig. Meine Augen waren geschwollen und meine Hände weiterhin feuerrot. Ich war wirklich müde. Dennoch wartete ich noch eine geschlagene Stunde, ignorierte Lennis und Mason, die auf der Suche nach mir waren und mich hier oben wohl nicht vermuteten, bis ich mich dann doch erhob und versuchte das Heu von meiner Kleidung zu bekommen. Mein Magen meldete sich mittlerweile deutlich zu Wort.

Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen und ich kam klitschnass am Haus an.
Paige kam sofort mit diesem furchtbar besorgten Gesichtsaudruck auf mich zu, doch ich blockte ab und verschwand schnell nach oben, duschte und ging dann direkt ins Bett.
Joe versuchte gar nicht erst auf mich zuzukommen. Noch nicht, dachte ich.
Ich legte das Buch zur Seite und zog die Decke über den Kopf.

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