Kapitel 3 - Winterschlaf (3)

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„Bist du bereit?"

Nein, ich war nicht bereit.
Und ich würde wohl auch niemals bereit sein für das, was mir bevorstand.
Wer war schon jemals bereit dafür, seine eigenen Eltern zu Grabe zu tragen?

Julian durfte mich zur Beerdigung begleiten.
Und ich musste gestehen – ich war froh, dass er da war.

„Nicht wirklich.", seufzte ich. Ich stand auf und betrachtete mich erneut im Spiegel.
Time to say goodbye.

„Komm. Mum wartet." Julian legte mir sanft den Arm um die Schultern, drückte sie kurz.
„Okay.", sagte ich.
Es war soweit.
Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich mit ihm nach unten ging.

Als wir am Friedhof ankamen, waren bereits viele der Gäste vor Ort. Keiner wusste, wie er mit mir umgehen sollte. Ich schüttelte Hände, nahm Beileidsbekundungen entgegen und hörte doch kaum, was sie sagten. Alles zog wie im Film an mir vorbei. Ich nickte mechanisch, ein Auge immer auf die Kapelle gerichtet. Es waren viele bekannte, aber auch einige unbekannte Gesichter dabei. Geschäftspartner, Mitarbeiter und Kunden meiner Eltern, aber auch Freunde und natürlich mein Onkel.

Ich erkannte ihn sofort wieder. Er sah meiner Mum so ähnlich. Nur mit Bart. Die dichten dunklen Haare und die Sommersprossen um die Nase waren die Gleichen. Auch ich hatte diese geerbt.
Er fühlte sich sichtlich unwohl in seinem schwarzen Anzug.
Es passte nicht zu ihm.
Er passte hier so gar nicht rein.

Er und meine Mum hatten öfter telefoniert, aber aufgrund der Distanz hatten sie in den Jahren auch die Nähe zueinander verloren. Ich wusste nicht, wie es war Geschwister zu haben. Aber es war für ihn wohl trotzdem nicht leicht.

Er drückte mich kurz aber fest und fuhr mir übers Haar, so wie es mein Opa es früher immer getan hatte. Ich fühlte mich diesem Mann, der für mich trotz der Ähnlichkeit ein Fremder war, so gar nicht nahe und dennoch wuchs der Kloß im Hals im ein vielfaches.
Ich stellte ihm Julian vor.
Die beiden hatten sich ja noch nicht kennengelernt. Mein Onkel gab ihm die Hand. „Call me Joe."
Julian lächelte.
Dann gingen mein Onkel und ich als Erstes in die große Kapelle.

Der Rest würde draußen noch warten müssen. Nur Julian nahm ich mit hinein. Die Tür fiel hinter uns zu und ich schluckte schwer.

Vorne aufgebarrt waren zwei weiße Särge. Wie ich es mir gewünscht hatte. Weiß und rot waren auch die Blumen, die mit den Kränzen um die Särge lagen. Die Särge waren offen.
Damit die Familie Abschied nehmen konnte...
Der Wunsch meines Onkels. In Amerika war das wohl so üblich.
Ganz bescheidene Idee.
Wieso hatte ich da nochmal nichts gegen gesagt?!Nun war es zu spät.

Panisch sah ich zu Julian. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich schnappte nach Luft.
„Ich kann das nicht." Ich krallte mich in seine Jacke.„Du musst nicht." Er zwang mich ihn anzusehen. „Keiner kann dich zwingen. Du kannst sie so in Erinnerung behalten, wie du sie das letzte Mal gesehen hast."
Tief durchatmen, sagte ich mir immer wieder selbst. Ich schloss kurz die Augen, versuchte mich zusammenzureißen und löste mich von Julian.

„Ich muss es schaffen.", sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm. „Ich muss."
Es war wie ein Beweis für mich selbst, dass ich alles unter Kontrolle halten konnte. Jeder Schritt war eine Überwindung, aber ich quälte mich langsam nach vorn. Vorsichtig näherte ich mich dem Sarg meines Vaters.

Er lag darin, als würde er schlafen. Blass. Leblos. Und doch... einfach nur, als würde er schlafen. Ich starrte ihn eine Weile lang einfach an, vergaß zu blinzeln, bis meine Augen brannten. Man hatte meinem Vater einen Anzug angezogen, den ich ausgewählt hatte. Sein Lieblingsanzug.
Ich ging noch einen Schritt näher ran.
Es war beängstigend und so unwirklich.
Mit zitternden Fingern streckte ich die Hand aus, zog sie aber wieder zurück. Ich konnte ihn nicht berühren. Auf keinen Fall!
„Mach's gut, Dad!", flüsterte ich und realisierte wohl erst in diesem Moment, dass er mich nicht hören konnte. Dass er mich niemals wieder hören konnte.
Stumme Tränen liefen über meine Wange.
Ich biss mir auf die Knöchel und versuchte nicht vollends die Beherrschung zu verlieren.

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