Kapitel 3 - Winterschlaf (2)

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„Ich mach mir doch nur Sorgen, Tilly", warf er beschwichtigend ein. „Es täte dir vielleicht gut mal mit deinen Mädels zu reden. Oder mal wieder am Leben teilzunehmen."
„Welches Leben...", ich schnaubte verächtlich.
„Es hat sicher einen Grund, warum du noch am Leben bist."
„Fang mir jetzt nicht mit deinem Schicksalsscheiß an."

Atmen. Tief atmen.

„Deine Eltern hätten mich Sicherheit nicht gewollt..."
„Was hätten meine Eltern nicht gewollt?!", schnitt ich ihm sofort scharf das Wort ab.
„Was weißt DU denn, was meine Eltern gewollt haben?!"

Julian sah sich hektisch um. Meine Lautstärke war mit jedem Wort exponentiell angestiegen und der Rest schlief noch.
„Ich mein ja nur..."

„Meine weniger, Julian. Halt einfach mal den Mund! Ich hasse es so, wenn man mir sagt, was ich tun oder lassen soll, was angeblich für mich gut wäre. Woher willst ausgerechnet DU das wissen?"

Game over.

Und schon war ich in Rage.
Und wieder traf es Julian mit voller Wucht.

„Ich habe kein Leben mehr. Mein ganzes Leben ist im Arsch! Ich hasse das. Ich hasse mein Leben gerade so sehr. Und ich hasse jede scheiß verdammte Schneeflocke da draußen!"

Julian saß mit großen Augen da und starrte mich an.

„Ich hasse es jeden morgen aufzuwachen in einem fremden Bett und mit einem Mann Kaffee zu trinken, der nicht mein Vater ist. Ich hasse es, dass die Frau, die ich jeden Tag sehe, nicht meine Mutter ist. Nicht, dass ich meine Eltern auch nur halb so oft zu Gesicht bekommen hätte. Ich hasse es, dass einfach ständig jemand um mich herumwuselt! Ich hasse es, dass alle ständig fragen, wie es mir geht. Ich hasse es, dass alle sich ständig Sorgen machen. Ich hasse meine Eltern dafür, dass sie mich allein gelassen haben und dass sie meinen Onkel dazu bestimmt haben auf mich aufzupassen. Ich kann auf mich selbst aufpassen!"

„I-Ich weiß, dass du das kannst, aber..." Wütend funkelte ich ihn an, so dass er seinen Satz ganz schnell abbrach.

„Ich hasse dich dafür, dass du ständig versuchst mich aufzubauen. Ich will mich nicht besser fühlen! Ich hasse das Schicksal oder wie du den Scheiß nennst dafür, dass ich nicht mit in diesem Auto saß und mich mit diesem Scheiß nicht auseinandersetzen müsste. Ich hasse es so sehr, dass ich lebe und sie tot sind!"

„Tilly!"

Etwas fiel zu Boden, klirrte und ein Schmerz durchfuhr mich.
Ich verstummte schlagartig und starrte auf meine Hand, die zur Faust geballt war.

Das Glas, dass ich immer noch in der Hand gehalten hatte, war zersprungen. Die Scherben steckten in meiner Handfläche.
In meiner Wut hatte ich es einfach zerdrückt.

Geschockt sah ich auf das Blut, dass sich nun aus meiner Hand auf den Boden tropfte. Meine Hand zitterte. Nicht nur die Hand, ich zitterte am ganzen Körper.

Julian war aufgesprungen. Die erste Bewegung, die er seit meinem Ausraster machte. Für einen Moment sahen wir uns an. Ich war wie erstarrt.
Mir war kalt und meine Knie waren weich. Mein Hals war trocken und rau vom Herumschreien, doch ich konnte nicht einmal schlucken.
Beweg dich nicht." Julian hastete aus der Küche und kam mit Handfeger und Müllschippe wieder und versuchte schnell alle Scherben auf zu fegen.
Ich stand einfach nur da und lauschte meinem rasenden Herzschlag. Das Rauschen in meinen Ohren überdeckte die Geräusche um mich herum.

Julian saugte auch schnell noch einmal grob, holte Hausschuhe, hob meine Füße an und steckte sie in die Schuhe.
Erst dann schob er mich an die Spüle und öffnete meine Hand und überlegte, was er tun sollte.
Er war maßlos überfordert mit meinem Ausbruch.

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