Kapitel 1 - Schneeengel (3)

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„Meine Eltern müssten gleich kommen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

In meinem Kopf begann es zu schrillen und ich war immer noch nicht bereit die Beamten ins Haus zu lassen.
Die beiden Polizeibeamten tauschten einen Blick. Irritiert sah ich von einem zum Anderen.

Seufzend wandte sich Herr Feuerbach an mich.
„Matilda, deine Eltern werden nicht kommen."
„Wie meinen Sie das?!"
„Es gab einen schweren Unfall auf dem Berliner Ring."

Meine Augen weiteten sich. „In welchem Krankenhaus sind sie?"

In meinem Kopf war ich schon längst in Jacke und Schuhe gesprungen, doch sein leichtes Kopfschütteln ließ mich innehalten.

„Sie... Sie...", stotterte ich und sah ihm direkt in die Augen.
„Sie haben es nicht geschafft.", sagte er leise. „Sie starben noch am Unfallort."
Das Schrillen wurde immer lauter, bis es sich anfühlte, als würde mit einem lauten Knall eine Birne platzen.

Eine eisige Windböe blies mir eine Schneeflocke direkt ins Gesicht. Ich blinzelte nicht, starrte direkt ins Flockenmeer.
In meinem Kopf war es plötzlich still. Zu still.

Ich sah den Polizeibeamten an. Er sagte etwas, aber es drang nicht an meine Ohren.
Mein Blick wurde wieder vom Schneeflockentanz gefangen.
Ganz unschuldig und leise fielen die Flocken anschließend zu Boden.
Ich drängte mich an den beiden Beamten vorbei und lief auf Socken hinaus in den verschneiten Vorgarten, zu unserer Einfahrt.
Sie war leer.

Ich sah die Straße hoch und runter.
Vielleicht kommen sie ja doch einfach gleich nach Hause?
Sie starben noch am Unfallort, hallte die Stimme in meinem Kopf wider, begleitet von einer Endlosschleife Nein, nein, nein, nein, nein.

Die Kälte kroch an mir hoch, der Wind riss an meinen langen Haaren. Ich stand inmitten des Schneesturms und fühlte mich wie leergepustet.
Meine Wangen glühten als kämpften sie gegen die Kälte, die mich nach und nach vereinnahmte. Sie füllte jede Zelle meines Körpers, füllte die Leere.

Tränen tropften von meiner Wange, erstarrten noch im Fall zu Eis und schlugen hart auf dem Boden auf.
Wann hatte ich angefangen zu weinen?

Ich sah den Tränen hinterher und fühlte mich genau wie sie.
Im freien Fall absorbierte ich die Kälte. Mein Innerstes dehnte sich aus, wurde zu Eis und mein Herz zersplitterte, als ich auf dem Boden der Tatsachen aufschlug.
Das konnte nicht sein. Unmöglich.

Vom Chaos umwirbelt und schon leicht zugeschneit, ging ich im Vorgarten auf die Knie.

„Tilly!" Jemand griff nach meinem Arm, um mich hochzuziehen.
Ich sah auf und blickte in Julians besorgte Augen. Wo kam er plötzlich her?
Achja... das Date.
Der Polizist kam ihm zu Hilfe und gemeinsam zogen sie mich auf die Füße.
„Was ist passiert?" Julian klang außer Atem.
„Bringen wir sie erstmal ins Haus", schaltete sich die Polizistin nun ein.
Julian hob mich in seine Arme und meine Finger krallten sich automatisch in seine Jacke.
Ich fühlte mich außer Stande mich in irgendeiner Form zu regen oder etwas zu sagen. Also schwieg ich.

Julian legte mich auf die Couch und eine Decke wurde über mich gelegt.
Erst jetzt spürte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Mit großen Augen beobachtete ich die Menschen in meinem Haus.
„Was ist passiert?", fragte Julian erneut.
„Ihre Eltern sind auf dem Stadtring tödlich verunglückt.", sagte Frau Hesse leise und legte mir die Hand auf den Arm.
Vehement schüttelte ich den Kopf.
Bullshit.
Das konnte nicht sein.
„Fassen sie mich nicht an.", brachte ich hervor und versuchte mich vor ihrer Berührung wegzudrehen.

Julian war neben mir erstarrt. Mit offenem Mund sah er Frau Hesse an. Ihre Berührung hatte mich dagegen aus meiner Starre gerissen.

„Matilda.."
„Tilly!", unterbrach ich sie direkt. Sie räusperte sich.
„Tilly, hast du noch Verwandte? Eine Oma oder Tante vielleicht, wo du erstmal bleiben kannst?"
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich abrupt auf.

„Das ist doch Schwachsinn. Erzählen Sie doch keinen Scheiß!", fauchte ich sie an. „Ich will jetzt meine Eltern sehen. Das kann gar nicht sein."
„Tilly..", setze Frau Hesse an, doch ich unterbrach sie erneut.
„Das kann nicht sein.", wiederholte ich.
Frau Hesse tauschte einen Blick mit dem Polizisten.
„Ich glaube Ihnen das nicht." Ich sprang auf und suchte nach meinem Telefon.
Julian saß immer noch wie versteinert auf der Couch.
Hilfesuchend wandte sich Frau Hesse an ihn.
„Möchtest du vielleicht deine Eltern anrufen?" Julian nickte und zog sein Telefon aus der Tasche. „Bitte sie doch vielleicht herzukommen. Ich denke deine Freundin kann jetzt jede Unterstützung gebrauchen."
Ich bin nicht seine Freundin, schoss es mir durch den Kopf.
Mit zitternden Händen entsperrte ich mein Telefon und wählte die Nummer meiner Eltern.
Es nahm niemand ab. Nach dem 3. Versuch wählte ich die Nummer vom Büro.
Auch dort nahm niemand mehr ab.
„Fuck." Laut fluchend schmiss ich mein Telefon in die Ecke und ließ mich schwer atmend zurück auf die Couch fallen.
Meine Hände kribbelten und das Zittern wurde immer stärker.
Ich war so sauer auf meine Mutter gewesen. Vor meinem inneren Auge sah ich noch meinen Vater heute morgen am Küchentisch sitzen.
Das konnte einfach nicht wahr sein.

Der Druck auf meiner Brust wurde stärker, bis es mir immer schwerer fiel zu atmen.
Ich drehte meine Hände in der Luft und beobachtete das heftige Zittern.
Sternchen fingen an vor meinen Augen zu tanzen.
„Ich will meine Eltern sehen.", forderte ich um einiges leiser als noch vorhin, während erneut Tränen meine Sicht verschleierten.

Jemand packte mich an der Schulter, doch ich konnte nicht hinsehen.
Stattdessen schloss ich die Augen und japste nach Luft. In meinen Ohren begann es wieder zu schrillen.
Sie haben es nicht geschafft.
Sie starben noch am Unfallort.
Immer noch spielten die Worte in Dauerschleife in meinem Kopf.

Mir war schlecht. Und schwindelig. Ich presste mir die Hände an die Ohren, doch das Schrillen wurde nicht leiser. Genauso wenig wie die penetrante Stimme in meinem Kopf.
Jemand nahm meine Hände von meinen Ohren, drückte sie.
Ich riss die Augen auf und sah direkt in ein paar große, braune Augen.
Kopfschüttelnd schnappte ich nach Luft, versuchte meine Hände zu entreißen, doch er hielt sie fest.

Julian war vor mir in die Hocke gegangen und sah mich an. In übertriebenen Bewegungen atmete er ein und wieder aus, ein und wieder aus.
Ich spürte seine Daumen, die über meinen Handrücken strichen. Meine Sicht war verschleiert, Sternchen tanzten noch immer vor meinen Augen.

„Atmen.", hörte ich seine Stimme wie aus weiter Ferne. „Konzentrier dich, Tilly. Du bist Sängerin. Atme in deinen Bauch."
Ein. Aus. Ein. Aus.

Ich schloss meine Augen wieder und konzentrierte mich ausschließlich auf meine Atmung, bis diese so ruhig wurde, dass das Schrillen in meinen Ohren und der Schwindel nachließen.

Julian strich weiterhin über meine Handrücken, nur so bekam ich mit, dass er noch da war.
Desorientiert und immer noch zitternd, öffnete ich vorsichtig die Augen wieder.
Ich blinzelte einmal, zweimal und sah mich um.
Es fühlte sich an als würde man aus einem furchtbaren Traum erwachen und doch war es ganz offensichtlich kein Erwachen.

Ich sah in vier weitere, besorgte Gesichter.
Sie waren alle noch da.
Und sie hatten sich sogar vermehrt.
Und sie hatten alle mitbekommen, wie ich gerade völlig die Kontrolle verloren hatte.
Und meine Eltern waren immer noch...

„Fuck." entfuhr es mir noch, bevor der Damm brach und ich schluchzend nach vorne in Julians Arme fiel.

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Kapitel 1 geschafft.
Den Teil hatte ich schon lange vorgeschrieben...

Wie gefällt es euch bisher?
Bzw wie findet ihr die Änderungen? :D

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