Bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, kamen Joe und Paige in die Küche geschneit und wünschten mir ein frohes neues Jahr.
Paiges Wangen waren leicht gerötet, die etwas wild aussehenden Haare versuchte sie gerade notdürftig zu bändigen. Joe zwinkerte ihr zu und sah dann über meine Schulter, schielte in meine Tasse. „Ist noch Kaffee da?"
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich von ihm zu Paige.
Was hatten die denn getrieben?
Warte, nein. Das wollte ich gar nicht wissen. Ekelhaft.
Ich schüttelte den Gedanken schnell wieder ab und nickte. „Ist in der Kanne. Kannst du mir auch noch einen eingießen?"
Ich reichte ihm meine Tasse.„Wie war dein Neujahrsabend mit Sam?", wollte Paige wissen und ich bildete mir ein einen leicht argwöhnischen Unterton vernommen zu haben.
Ich zuckte mit den Schultern und nahm Joe meine wieder volle Tasse ab. „Ganz okay."
„Scheint anstrengend gewesen zu sein. Du hast geschlafen wie ein Stein und hast dich auch genauso viel bewegt, als ich versucht habe dich schlafend ins Bett zu tragen." Er schmunzelte und sah wieder aus wie eine bärtige Version seines Sohnes. Immerhin wusste ich jetzt, wie ich ins Bett gekommen war.
„Paige's Snacks lagen mir sicherlich nur schwer im Magen."
Lennis gluckste leise und blickte verstohlen über den Rand seiner Tasse hinweg.
Ich verdrehte die Augen und wandte mich wieder Paige zu.
„Warum wolltet ihr mir eigentlich nicht sagen, dass Sam an einer Sprechphobie leidet?", konfrontierte ich sie direkt.
„Oh, hat er es dir schon erzählt?" Sie sah sehr überrascht aus.
„Nein. Er redet schließlich nicht mit mir... weil er eine Sprechphobie hat!"
Meinte Tante schoss Lennis einen wütenden Blick zu. Wenn Sam es mir nicht erzählt hatte, war der Übeltäter wohl schnell ausgemach. „Immerhin hat einer hier den Sinn darin gesehen, mir zu erzählen was los ist.", verteidigte ich Lennis.Paige seufzte.
„Sam leidet seit er klein ist an selektivem Mutismus.", erklärte sie dann doch noch. „Es wird besser. Er mag es dennoch nicht, wenn man das Fremden erzählt."
Meine Stirn legte sich in Falten. „Nun, wir leben unter einem Dach. Das wäre nett gewesen zu wissen."
„Wieso? Gab es einen Zwischenfall?" Paige sah aus, als wäre sie bereit sofort aufzuspringen und Sam zu suchen. Ich blinzelte irritiert.
„Nein.", sagte ich so neutral wie möglich und sippte an meinem Kaffee.
Joe schien sich bei dem Thema komplett rauszuhalten. Er blätterte offenbar sehr interessiert in seiner Zeitung.
„Ich weiß, ich bin vielleicht etwas überfürsorglich." Paige fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und lehnte sich etwas nach vorn. „Sam geht regelmäßig zur Therapie. Das hilft ihm sehr." Sie schielte kurz zu Joe. „Wir dachten es würde dir vielleicht gut tun auch einen Therapeuten regelmäßig aufzusuchen."Ich ließ die Tasse sinken. Mir fiel alles aus dem Gesicht.
Lennis tat plötzlich so als wäre er schwer beschäftigt ein Haar aus seiner Tasse zu fischen. Joe ließ die Zeitung sinken und sah zwischen Paige und mir hin und her.
Meine Finger kribbelten verräterisch. Ich konnte spüren, wie die Wut herangerollt kam, wie eine riesige Welle.„Das habt ihr euch also gedacht. Aha."
„Wir dachten einfach, es wäre gut, wenn du mit jemandem reden könntest." Ich hielt ihrem Blick stand und versuchte nicht zu explodieren. Ich gab mir wirklich Mühe die Welle aufzuhalten.
„Da habt ihr falsch gedacht.", erwiderte ich.
„Da du mit uns nicht redest, haben wir die Idee für gut befunden."
„Also habt ihr das schon beschlossen, dass ich dort hingehe?!"
Ich hörte selbst, wie meine Stimme die Tonlage wechselte.
„Ich geh nach oben.", warf Lennis ein und verließ eilig die Küche. Kluges Kerlchen.
„Tilly, wir wollen nur nicht, dass du mit deinem Verlust alleine umgehen musst.", fuhr Paige fort, als Lennis die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Ich bin übrigens erst seit 2 Wochen hier. Nur falls ihr das vergessen habt."
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich zurück,
„Du musst ja nicht sofort hingehen. Aber bald.", warf nun mein Onkel ein.„Ihr versucht echt alles, damit ich euch wirklich nicht leiden kann, oder?"
„Wie kommst du darauf?", fragte Paige.
„Schlimm genug, dass ich hier sein muss. Ich schätze es ganz und gar nicht, wenn solche Dinge vor Anderen angesprochen werden oder mir Geschenke meiner Mutter vor allen überreicht werden und ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn man mir Dinge aufzwingt."
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich hatte wirklich große Mühe nicht lauter zu werden.
„Das tut mir leid, habe ich verstanden, aber du bist erst 16. Und die Therapie ist nicht verhandelbar." Für Paige war das Gespräch offenbar beendet. Sie stand auf und fing an sich mit dem dreckigen Geschirr in der Spüle zu beschäftigen. Joe räusperte sich erneut und faltete seine Zeitung übermäßig ordentlich zusammen, während die Welle über mir zusammenkrachte und ich in die Tiefe des wütenden Ozeans abtauchte.„Ernsthaft?!" Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich zwang mich aber auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. „Ich bin schon 16 und ihr seid nicht meine Eltern. Die hätten mich im übrigen nie zu so etwas gezwungen."
„Wir sind zumindest jetzt erziehungsberechtigt.", hielt Joe dagegen. Ich knurrte leise.
„Ich brauche ganz sicher eine Therapie – wenn ich die zwei Jahre hier überstanden hab!" Viel zu hastig sprang ich doch auf, mein Stuhl kippte nach hinten und knallte auf den Boden. „Was stimmt denn mit euch nicht?!"
Wutschnaubend stellte ich ihn wieder auf und ignorierte den mahnenden Blick meines Onkels.
„Aber ihr könnt es ja mal versuchen mich zu zwingen.", fauchte ich und schnitt Joe direkt das Wort ab. „Viel Spaß dabei." Bevor ich mich wirklich anfing in Rage zu reden, beschloss ich die Küche einfach schnellstmöglich zu verlassen. In der Tür hielt ich inne und drehte mich noch einmal um.
„Achja... happy new year."
Damit ging ich endügltig und knallte die Tür hinter mir zu.
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Genç Kurgu‚If you get lost, you can always be found' Tilly ist 16, talentierte Sängerin und Pianistin und hat große Pläne. Nach einem heftigen Schicksalsschlag ändert sich für Tilly allerdings alles. Sie muss ihr zu Hause verlassen und bei ihrem Onkel auf ei...