Kapitel 1

394 22 12
                                    

Er konnte spüren, wie das warme Blut langsam an seinen Schläfen über seine Wange herunter lief. So als wären es Tränen, die er vergoss. Doch die Fähigkeit zu weinen hatte er längst verloren. Zu viel Erlebnisse geschahen schon in seinem Leben, bei denen er das getan hatte. Jetzt war es endlich so weit. Die Götter hatten ein Einsehen und riefen ihn zu sich. So traurig das sein mochte, mit nicht mehr als zwanzig Jahren zu sterben, immerhin fand er Erlösung von diesen ganzen Schmerzen, die ihn quälten. Er würde diese Welt des Kummers verlassen und vielleicht wartete nach seinem Tod sogar eine bessere auf ihn. Eine, in der er endlich für all seine Taten belohnt werden würde. Denn das hatte er verdient, davon war er überzeugt. Natürlich war auch er nicht frei von Schuld. Doch was immer er in seinem Leben tat: Er hatte stets aus vollster Überzeugung gehandelt und das getan, was er für das Richtige hielt. Er blieb jederzeit seinen Prinzipien treu und wich niemals davon ab. Selbst in Zeiten größter Not nicht, wenn die Versuchung für ihn nahezu unmenschlich groß wurde. Wie viele aller Menschen konnten das von sich behaupten? Sicher nicht viele. Ganz besonders nicht von denen, welchen er begegnete.
»Wenn schon nicht auf dem Schlachtfeld, so sterbe ich doch immerhin in meiner Rüstung«, flüsterte er, verzog aber sofort das Gesicht. Denn allein beim Sprechen durchzuckten ihn Schmerzen, wie ein Blitz. Anscheinend war der Stoß, den er vorhin gegen die Brust bekam, schlimmer als er bisher dachte. Doch auch dies würde bald vorbei sein.
»Niemand wird jetzt und hier sterben«, hörte er plötzlich eine energische Stimme neben sich. »Nicht so lange ich das verhindern kann!«
»Es ist zu spät«, murmelte er und wieder durchfuhr ihn dieser stechende Schmerz in seiner Brust.
»Es ist niemals zu spät. Es sei denn man hat aufgegeben«, entgegnete die Stimme erneut. »Und wer aufgibt, der hat schon verloren. Wollt Ihr das etwa? Euer Leben aufgeben?«
Er musste zugeben, dass er da gar nicht drüber nachgedacht hatte. Stattdessen hatte er seinen nahenden Tod hingenommen, als etwas das er nicht ändern konnte und auf das er keinen Einfluss hatte. Wollte er hier sterben? Er kannte die Antwort.
»Na bitte, habe ich es doch gewusst.« Er hörte Rascheln von Kleidung und konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie sich jemand neben ihn kniete. »Wie heißt Ihr?«
»Hasekawa Akiyoshi«, stieß er seinen Namen hervor.
»Mein Name ist Shiori. Geschrieben mit den Zeichen für Gedicht und Liebe. Es freut mich sehr Euch kennenzulernen Akiyoshi-sama. Auch wenn die Umstände weniger schön sind.« Akiyoshi musste kurz lächeln. Er konnte einfach nicht anders. »Danke gleichfalls«, brachte er gepresst über die Lippen. Dann spürte er, wie jemand seinen Kopf mit schlanken Fingern anhob, nur um ihm das Blut von seinem Gesicht abzutupfen. Und dann sah er sie endlich.

Shiori hatte glatte haselnussbraune Haare, welche ihr, soweit er das beurteilen konnte, bis knapp auf die Schulter reichten. Ein paar Strähnen, die sich nicht bändigen ließen, fielen ihr ins Gesicht, was sie selbst jedoch nicht zu stören schien. Und womöglich bildete er sich das ein, doch ihre, ebenfalls braunen Augen, erweckten den Eindruck im Lichtschein der Abendsonne golden zu erstrahlen. Oder war er schon tot und Shiori eines der Himmelswesen, die Göttin Amaterasu Gesellschaft leisteten?
»Akiyoshi-sama, bitte bleibt bei mir. Kämpft gegen die Ohnmacht an. Nachher könnt Ihr Euch ausruhen. Darauf habt Ihr mein Wort.« Shioris Stimme klang beschwörend. Sie half ihm, sich ein wenig besser aufzusetzen. »Wie wäre es, wenn Ihr mir von Euch erzählt? Zum Beispiel wie Euch das alles passiert ist.«
»Das ist aber eine lange Geschichte«, meinte er. »Und eine außerdem eine komplizierte.«
»Aber bestimmt eine überaus interessante«, merkte Shiori an.
Dem konnte er nicht widersprechen. Auch wenn er ein etwas anderes Wort gewählt hätte, wie zum Beispiel abenteuerlich. Andererseits aber, fiel es immer noch nicht besonders leicht, zu sprechen. Ganz im Gegenteil. Das schien ihr ebenfalls wieder einzufallen.
»Oder aber ich erzähle ein wenig von mir«, schlug Shiori vor. »Natürlich nur, wenn es für Euch in Ordnung ist.«
Er nickte.
»Also gut. Aber sobald Ihr genervt seid von mir, weil ich zu viel rede, sagt es mir bitte«, bat sie ihn. »Großvater hat schon tausendfach zu mir gesagt, dass ich versuchen soll, weniger zu reden und stattdessen mehr zu arbeiten.« Sie verzog schuldbewusst das Gesicht.
»Großvater?«, fragte Akiyoshi.
»Genau genommen ist er nicht wirklich mein richtiger Großvater. Wir sind schließlich nicht blutsverwandt«, erklärte Shiori. »Aber ich bin bei ihm aufgewachsen. Ich bin ein Findelkind müsst Ihr wissen. Vor achtzehn Jahren hat er mich gefunden, als er jagen war. Seit diesem Tag bin ich bei ihm. Meinen Namen habe ich auch von ihm.«
Er nickte zum Zeichen, dass er ihr zuhörte. Ihre Geschichte hatte ihn neugierig gemacht und so einen Teil der Müdigkeit genommen. Seine Augen fühlten sich nicht mehr so schwer an, wie zuvor. Was ein gutes Zeichen war. Zumindest nahm er das an.

Shiori schien deshalb ebenfalls erleichtert zu sein. Wenngleich nicht völlig beruhigt. Einen Moment lang sah sie ihn an, ohne ein Wort zu sagen. »Es tut mir Leid, wenn das komisch klingt aber ich glaube das Beste wird sein, wenn Ihr euch auszieht.«
Akiyoshi starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Was?« Dass ihm überhaupt etwas zu sagen einfiel, überraschte ihn.

»Es ist nicht so, wie Ihr denkt!« Shiori lief vor Verlegenheit rot an. »Es ist nur so, dass es für Euch am besten sein wird, wenn Ihr die Rüstung ablegt. Ansonsten kann ich Eure anderen Wunden nicht so gut versorgen. Das versteht Ihr doch sicher, oder?«
Da hatte sie Recht. »Das hättest du aber auch anders sagen können«, schalt er sie. »Was soll ich denn denken, wenn ein junges und hübsches Mädchen wie du-«
»Ihr findet dass ich hübsch bin?«, fiel Shiori ihm ins Wort.
»Darum geht es doch gar nicht«, murmelte Akiyoshi und konnte fühlen, wie seine Wangen heiß wurden. »Aber du hast Recht. Die Rüstung abzulegen, ist keine schlechte Idee. Allerdings müsstest du mir dabei helfen.«
Sie nickte. »Ich weiß. Und Ihr müsst Euch nicht darum sorgen, dass ich etwas kaputt machen könnte. Meinem Großvater habe ich mit seiner Rüstung hin und wieder geholfen.«
»Dein Großvater ist ein Samurai?«, hakte er nach.
»Seit zehn Jahren ist er viel eher ein Ronin«, antwortete sie und seufzte. »Aber er redet immer noch so als wäre er einer. Doch sobald ich ihn nach seinem Dienstherren frage blockt er ab und wird einsilbig.« Dann sah sie ihn an. »Was ist mit Euch Akiyoshi-sama? Wer ist Euer Dienstherr? Ihr habt doch einen, oder?«
»Selbstverständlich!«, brach es aus Akiyoshi so heftig hervor, dass seine Brust anfing zu schmerzen.
»Keine Sorge, ich glaube Euch«, beruhigte sie ihn. »Und jetzt kommt, lasst mich Euch helfen mit der Rüstung. Sonst werden die Schmerzen, die ihr habt womöglich nur noch schlimmer.« Sie lächelte.

Akiyoshi konnte nicht anders als ihr Lächeln zu erwidern. Zudem stellte er fest, dass es ihn ungemein beruhigte nicht mehr alleine zu sein. Nicht, dass er vorhin Angst hatte, doch auch wenn er nichts bereute von den Dingen, die er tat hieß das nicht, dass es angenehm war alleine zu sterben.
»Also, sollten wir dann nicht endlich mal anfangen? «, fragte sie ihn. »Denn Wunden lange unbehandelt zu lassen ist nie gut. Und auch wenn bisher nur spekulieren kann, scheinen Eure Verletzungen doch schlimmer zu sein und wenn da noch die Rüstung den Druck darauf verstärkt...« Sie sprach nicht weiter.
Musste sie aber auch gar nicht. Er verstand auch so wovon sie sprach. Eine Sache wollte er aber trotzdem noch wissen. »Lebst du hier in der Nähe?«
Sie nickte. »Ja, nicht weit von hier. Es sind nicht viel mehr als dreißig Minuten zu Pferd.«
»Mein Pferd!« rief er, als er sich daran erinnerte, dass es auch irgendwo hier noch sein musste. Zumindest dann, wenn es nicht weggelaufen war.
»Keine Sorge. Es geht ihm gut und leistet meinem Gesellschaft. Ihr könnt dankbar sein, dass es los gelaufen ist, ansonsten hätte ich Euch vermutlich nicht gefunden.« Sie hielt ihm ihre Hand hin. »Jetzt kommt. Wir sollten langsam sehen, dass wir fertig werden. Sobald die Sonne untergeht wird es hier nicht nur kalt, sondern auch ungemütlich.«

Unter einem gequälten Aufstöhnen ließ Akiyoshi sich von ihr auf seine Füße ziehen. Erstaunt stellte er fest, mit welch unerwartet geschickten Fingern Shiori die Watagami, die Schulterriemen seiner Rüstung, löste. So dauerte es nicht lange bis sie ihn von seinem Brustpanzer befreite. Kurz danach folgten diesem auch Sode, sein Schulterpanzer, und Kote, der Armschutz.
»Gebt mir kurz einen Moment Akiyoshi-sama«, bat sie ihn ein wenig atemlos. „Ehrlich, ich hatte schon ganz vergessen wie schwer so eine Samurairüstung ist.« Sie verzog das Gesicht.
Akiyoshi, der endlich wieder das Gefühl hatte richtig atmen zu können, lächelte ihr aufmunternd zu. »Am Anfang erscheint es einem wirklich so, doch irgendwann kommt es zu dem Zeitpunkt, an dem einem das gar nicht mehr auffällt.«
»Kann sein.« Sie nickte und atmete tief durch. »Soll ich Euch noch aus Haidate und Suneate helfen, oder glaubt Ihr, dass es so geht?«
»So ist es schon viel besser«, sagte Akiyoshi und meinte es auch so. Die meisten Schmerzen hatte er im Oberkörper gehabt, also machte es keinen Sinn den Oberschenkelschutz und die Schienbeinschutz abzulegen.
»Das freut mich«, entgegnete Shiori. Sie biss sich kurz auf die Unterlippe. »Darf ich dann bitte kurz ...« Sie brach ab, doch er konnte gut die Röte, die sich auf ihre Wangen schlich erkennen.
»Natürlich.« Akiyoshi nickte und begann selbst seine Robe zu öffnen. Kurz schoss es ihm durch den Kopf, was er für ein Glück hatte nur am Oberkörper verletzt zu werden. So konnte er wenigstens seinen Hakama anbehalten. Wäre es anders, wäre es doch sehr peinlich für ihn geworden. »Machst du das eigentlich oft? Fremde verarzten, meine ich«, wollte er wissen um sich ein wenig abzulenken.
»Fremde verirren sich eher selten hierher«, antwortete Shiori. »Aber den Leuten aus dem Dorf helfe ich öfter. Auch wenn ich natürlich niemals einen richtigen Arzt ersetzen kann. Doch die meisten Bewohner unseres Dorfes können Ärzte ohnehin nicht bezahlen also-« Offensichtlich wollte sie noch mehr sagen, doch bevor sie das tat entwich ihr ein erschrockener Aufschrei, der ihn zusammen zucken ließ.






Der letzte Gruss des SamuraiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt