Schattenleben - Sag die Wahrheit

Sag einfach die Wahrheit

An ihrer Wohnung staunt Oliver.
Ein Handwerker renoviert und erklärt "sie wohnt vorübergehend eine drüber."
Er läuft rauf und sieht mit Schrecken, er steht gleich in einer kombinierten Küche mit Wohnschlafraum.
Er sieht einen Tisch der als Arbeitsplatte an der Wand steht, nur einen einfachen Wasserkocher und ein Kaffeefilter der auf eine Tasse gesetzt werden kann.
Die Küche hat nicht mal Herd oder Kochfeld und der Kühlschrank ist aus.
Er sieht einen schlichten Brottopf mit einem Brot und ein Kasten Wasser steht da.
In einem Schrank sieht er eine Tasse, ein Frühstücksbrettchen und Billigbesteck für eine Person.
Ein Blick ins Wohnschlafzimmer ist genauso ernüchternd.
Ein Schränkchen mit Schubladen wo Unterwäsche drin ist, daneben eine Kleiderstange mit Klamotten vom Second Hand Laden, ein Schlafsofa, ein Würfel in dem Decken verstaut werden, ein Tischchen und ein Würfelregal mit vier Ordnern drin.

'Trostlos! Armselig! Da haben es meine Hunde noch besser' denkt er und betritt das Bad.

Auf der Etagere unter dem Spiegel stehen nur Deo, Shampoo, Seife und Zahnputzsachen.

'Nicht mal Schminke ist hier. Kleine graue Maus, unscheinbar und kurz vor dem kompletten sozialen Absturz. Der Zusammenbruch heute war eine deutliche Warnung' denkt Oli und beschließt in die Ordner zu sehen.

Er findet alles und rechnet nach.
"Was?! 50,-€ bleiben für einen Monat? Das reicht ja nie im Leben" schreit er erschreckt auf.
Während er nochmal rechnet klingelt es und der Vermieter steht vor der Tür und bittet "wenn sie zufällig zu Frau Seiler fahren, dann nehmen Sie bitte das hier mit. Nach der Renovierung will der Eigentümer 100,-€ mehr für die Wohnung, ab nächsten Monat."
Oli schluckt, nickt und nimmt den Brief entgegen.

In der Klinik bringt er ihr die Sachen und sieht eine zerbrechlich wirkende bleiche Faye im Bett liegen.
"Hey, was macht dein Kopf? Turban und dein Gesicht haben die gleiche Farbe" versucht er einen Scherz.
Faye sieht ihn überrascht an und fragt "was führt dich zu mir?"
"Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht und das gab mir dein Vermieter" antwortet er und stellt die Tasche mit ihren Klamotten hin.
Faye blickt misstrauisch zu ihm und flüstert leise "ja danke."
Er reicht ihr den Brief von ihrem Vermieter und setzt sich still hin.
Faye liest den Brief, verliert nochmehr die Farbe im Gesicht und ihre grünen Augen schwimmen in Tränen, aber sie schweigt und dreht sich von Oli weg.
Er sieht wie sie sich komplett zusammen rollt, die Decke bis zur Nase zieht und versucht krampfhaft nicht zu weinen.
Er wartet still in der Hoffnung, dass sie vielleicht redet.

Nach einer Weile fragt er leise "wer ist Mike Seiler?"
Kaum hörbar kommt nur "mein jüngerer Bruder."
Oli fragt weiter "warum ist er in der geschlossenen psychiatrischen Einrichtung?"
"Ich weiß es nicht. Als ich vor 10 Jahren in Haft ging lebte er in einem Wohnheim. Als ich frei kam hab ich erfahren, dass er verlegt wurde und egal wen ich frage, ich bekomme keine Antwort" versucht sie leise zu erklären und fügt an "er ist Autist und ich war seine Bezugsperson, nachdem ich verurteilt wurde übernahm ein gesetzlicher Betreuer und ich bekam keine Auskunft mehr" erzählt sie leise.
Oli lässt nicht locker und fragt "wer hat euren Onkel mit dem Messer verletzt?"
Faye erstarrt kurz und reagiert abwehrend.
Sie bittet nur "geh jetzt bitte, ich möchte allein sein."
"Ich werde nicht gehen, ich will die Wahrheit hören und ich sage dir noch eins. Ich hab deine Krankenakte gesehen, auch die Fotos, also lüg mich nicht an" antwortet er und sie reagiert trotzig "ich will nicht darüber reden. Geh endlich. Mir kann keiner helfen."
"Okay, ich hab es versucht. Wer nicht will....., tschüss" zischt er und geht zur Tür.
Dort dreht er sich nochmal um und sagt "sag einfach die Wahrheit! Das löst vielleicht viele Probleme und man kann dir helfen."

Er wartet einen Moment mit der Klinke in der Hand und plötzlich setzt sie sich auf, sieht ihn an und im nächsten Moment bricht es aus ihr raus "der Mensch der mir helfen könnte und die Wahrheit kennt kann mir nicht helfen. Der ist in der Geschlossenen, vermutlich vollgestopft mit Beruhigungspillen und leider als Zeuge nicht zu gebrauchen weil jeder Psychologe ihn für nicht zurechnungsfähig hält. Sein gesetzlicher Betreuer war ein guter Freund meines Onkels und der hat nicht umsonst für Mikes Aufenthalt in der Geschlossenen gesorgt und verfügt, dass ich meinen Bruder nicht sehen darf. Ich könnte ihn ja beeinflussen und ihm etwas einraten. Egal was ich versuche, mein Leben ist seit 10 Jahren nichts mehr wert. Mir ist egal was mit mir passiert, mir ist nur wichtig, dass es Mike gut geht und man ihn in Ruhe lässt. Da nehm ich auch die Vorstrafe und meine Situation in Kauf. Ja, ich habe meinem Onkel nichts getan, es war Mike, weil er mich beschützen wollte und ich habe es auf mich genommen weil ich weiß, der Knast hätte Mike umgebracht."
Fayes Stimme überschlug sich zwischendurch, wurde zum Ende sogar immer leiser und nun sitzt dieses zerbrechliche Wesen da in diesem Klinikbett und hat sich Luft gemacht.

Nach ein paar Minuen fragt Oli leise "wofür wollte Mike dich beschützen?"
"Ich dachte du hast meine Krankenakte gelesen?! Was meinst du woher das alles kommt?! Mein Onkel nannte es immer sein Spielzimmer und ich nannte es Folterkammer, Kerker oder Verließ. Mein Bruder sieht teils auch so aus und ach ja, auch Mike war oft genug in dieser Folterkammer und ich musste seine Schreie oft ertragen" platzt Faye und ihr laufen wieder Tränen runter.

Oliver hat einige Sekunden an der Tür gestanden, zischt dann plötzlich "ich hätte dir fast geglaubt. Aber den eigenen Bruder zu beschuldigen ist kaltblütig. Er kann sich ja nicht wehren. Nein, sowas unterstütze ich nicht. Sie zu wie du klar kommst" und verlässt ihr Zimmer mit Wut im Bauch.

Faye spürt die Einsamkeit wieder in sich aufsteigen und rollt sich wieder weinend auf dem Bett zusammen.
Die Mieterhöhung kann sie nicht aufbringen und wird wohl zum Monatsende auf der Straße enden.

Nach ein paar Minuten ruft sie Uwe an und erklärt ihm die Sachlage.
Sie weiß er wird sie feuern und dann hat sie keine Chancen mehr.
Uwe hat ihr zugehört und ihr gesagt "es tut mir leid, dann bist du zum Monatsende hier raus."

Faye sieht nur einen Weg und fast einen Entschluss.
Wenn sie hier heraus darf ist ihr Leben nichts mehr wert und da sie eh niemand mehr vermissen wird kann sie auch gleich ganz gehen.

'Ich habe hier keine Zukunft mehr. Es gibt niemanden der mich vermissen würde. Ohne mich ist auch Mike besser dran. Es ist besser wenn ich es schnell  beende' denkt sie, rollt sich zusammen, blickt nochmal raus und schläft ein.