Kapitel 37

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Hinata schrak hoch, als er eine Hand an seiner Schulter spürte.
 
Verschlafen blinzelte er ein paar Male, um sich an das helle Licht im Flugzeug zu gewöhnen, bis er eine Flugbegleiterin vor sich sehen konnte, die ihm deutete, dass er auf die Durchsage achten sollte.
 
Zwei Tage hatte er in Hyogo bei dieser Hochzeit verbracht – ihm war vollkommen bewusst, dass es aufgrund seiner Krankheit nicht gut für ihn war, so viel Alkohol zu trinken, doch wer kann da schon widerstehen, wenn es sich um eine Party – oder mehrere Partys – handelte, und alle anderen auch tranken?
Und jetzt saß er in dem Flugzeug, das ihn zurück nach Miyagi bringen würde.
Mit einem Kater und erfüllt von Müdigkeit.
 
Er freute sich schon zu sehen, wie seine Mutter darauf reagieren würde.
 
Erschöpft rieb er sich über die Schläfen, während er die Anweisung, sich anzuschnallen, befolgte. Dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen.
Er konnte nicht beschreiben, wie sehr er sich gerade wünschte, dass Kageyama hier bei ihm wäre.
 
 
Das Taxi, das nach der Gepäckabholung auf ihn wartete, schien wie ein kleiner Lichtblick, als er endlich dort ankam.
Im Taxi selbst wäre er beinahe wieder eingeschlafen, doch er konnte sich zurückhalten – Gottseidank war das ein Taxifahrer, der ihm viel über sein Leben erzählte. War nicht gerade interessant, doch irgendwie half es ihm, wach zu bleiben.
 
Als sie vor seinem Wohnhaus ankamen, atmete er tief durch, schüttelte sein T-Shirt durch, in der Hoffnung, dass die Luft den Geruch irgendwie entfernen könnte – seit letzten Abend hatte er das Gefühl, dass absolut alles nach Alkohol riechen würde, weshalb er langsam schon etwas paranoid wurde.
 
Der Taxifahrer gab ihm seinen Koffer, Hinata bezahlte ihn, bedankte sich, und dann war die Szene auch schon vorbei.
 
Ein letztes Mal atmete er tief durch, bevor er sich in seine Wohnung begab, seinen Koffer darin abstellte. Das Erste, was er tat, war, in sein Schlafzimmer zu gehen und sich dort etwas Neues zum Anziehen zu holen – duschen wollte er auch noch, und es war abgemacht, dass er in einer Stunde bei seinem Elternhaus sein würde.
 
Zwischen Duschen, Umziehen und eine Kleinigkeit essen sah er immer wieder auf sein Handy, schrieb mit Kageyama herum, vergaß manchmal die Zeit, legte das Handy weg, machte weiter, suchte sein Handy, schrieb wieder.
 
Nach genau einer Dreiviertelstunde war er fertig, lief die Treppen hinunter und hinaus ins Freie. Er war froh, dass er nicht weit zu gehen hatte, denn eigentlich war er immer noch ziemlich fertig vom Fliegen.
 
Als er vor dem Haus ankam, in dem er Achtzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, schüttelte er sein T-Shirt noch einmal durch, da er sich immer noch einbildete, dass sich auf diesem noch Geruchreste befinden würden. Und wenn seine Mutter etwas genauso hasste wie das Thema Liebe im Bett, dann Alkoholgeruch und Zigarettenrauch.
 
Er atmete tief durch, dann klingelte er – und erschrak zugleich, denn es dauerte keine zwei Sekunden, bis seine Mutter die Tür aufgerissen hatte und vor ihm stand. „Ja hallo!“, begrüßte sie ihn, trat aus dem Haus, nahm ihren Sohn sofort in die Arme.
Etwas überfordert erwiderte Hinata die Umarmung. „Heyy.“
Seine Mutter ließ ihn los, strich ihm über seine Wange. „Und? Wie war’s? Ist alles okay? Hast du Hunger? Willst du-“
„Könnten wir vielleicht einfach mal reingehen…?“
„Ja! Stimmt! Gute Idee“, sagte sie, lachte dabei auf.
 
Drinnen angekommen war das Erste, was sie tat, nach Natsu zu schreien – doch es kam keine Antwort, weshalb Hinata kurz verwirrt zu ihrem Zimmer blickte.
 
„BUH!“
„AAAHH!“, schrie er, als Natsu aus der Abstellkammer hervorgesprungen war und ihn nun von hinten umarmte, sich dabei zu Tode kicherte.
„Das war echt nicht nett…“, meinte Hinata, drückte seine Schwester dabei an sich, umarmte sie ganz fest, während sich von ganz alleine ein Lächeln auf seinem Gesicht bildete.
 
Natsu umarmte ihn zurück, als hätte sie ihn monatelang nicht gesehen, obwohl es doch nur eine Woche gewesen war. „Ich hab dich vermisst, Onii-chan!“
„Ich dich auch.“
 
Er löste sich etwas von ihr und strich ihr ihre Haare aus dem Gesicht, betrachtete sie dabei genau. „Bist du gewachsen?“, fragte er scherzhaft.
„Nicht wirklich. Bin ausgewachsen, hat der Arzt gesagt…“ Sie setzte einen kleinen Schmollmund auf, lächelte jedoch zugleich, und Hinata sah ihr an, dass sie es hasste, die geringe Größe vererbt zu haben.
Konnte er ihr nicht verübeln, aber es war schon lange klar gewesen.
 
Aus der Küche konnte er schon einige, verschiedene Gerüche ausmachen, die seinen Magen knurren ließen – seine Mutter war eine Meisterin beim Kochen, und Natsu hatte ihr Talent geerbt. Er hingegen würde es wahrscheinlich schaffen, dass die gesamte Küche abbrannte, wenn er irgendwie versuchen würde etwas zu kochen.
„Habt ihr jetzt Hunger oder nicht?“
„Und wie!“, rief Hinata ihr zu, und es brauchte kein zweites Rufen, um die beiden Geschwister ins Esszimmer zu befördern.
 
Sofort setzten sie sich zu Tisch, und als Ayumi das Essen servierte und sich ebenfalls dazu setzte, dauerte es nicht lange, bis das altbekannte Spielchen darum, wer als Erstes nehmen durfte, wieder losging.
 
„Könnt ihr euch einmal vernünftig benehmen?“, bat Ayumi etwas genervt, während sie nach dem Schöpflöffel griff und sich selbst etwas nahm.
Die beiden Geschwister kicherten los, dann ließ Hinata jedoch seiner Schwester den Vortritt.
 
 
Den folgenden Abend verbrachte er zusammen mit seiner Familie. Sie sahen sich Filme an, redeten, erzählten sich Geschichten – sowohl alte als auch neue – und lachten.
Ab und zu wäre es fast dazu gekommen, dass er sich versprochen hätte – er wusste, dass das nicht passieren durfte, da sonst ein totales Chaos entstehen würde, für das seine Beziehung mit Kageyama noch zu schwach war.
Also bremste er sich jedes Mal noch kurz davor ein – er war dafür dankbar, dass weder seine Mutter, noch seine Schwester etwas davon mitbekamen.
 
Es war schon etwas später, als Natsu sich dazu entschied, in ihr Zimmer zu gehen.
Somit waren er und Ayumi an diesem Tag erstmals alleine.
 
Zuerst herrschte einige Minuten Stille zwischen ihnen, denn beide konzentrierten sich auf den Fernseher, in dem gerade irgendeine Comedy-Sendung lief.
Hinata knabberte an seinen Chips, sah dabei kein einziges Mal zu ihr – zumindest nicht, bis sie zu reden begann.
 
„Und wie lange bleibst du jetzt hier?“
 
Er wandte den Blick nicht von dem Gerät ab, kaute jedoch langsamer weiter. „Was meinst du?“
„Wie lange du jetzt in Miyagi bleibst.“
„Ich wohne hier?“
„Ja, aber in letzter Zeit bist du immer öfter einfach woanders hingeflogen.“
 
Hinata sah zu ihr, kaute wieder normal weiter. „Und? Was willst du mir jetzt damit sagen?“
Sie zögerte, sah dabei nicht vom Fernseher weg. „War nur eine Frage. Du musst ja ganz schön viel in Tokio zu tun haben, so oft, wie du dort bist.“
„Problem?“
Nun blickte sie zu ihm – ihr Blick war ernst, und zugleich eiskalt. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“
„Du machst dir immer Sorgen, Mom. Aber ich bin alt genug, um für mich selbst sorgen zu können.“
„Das hab ich gesehen.“
„Wieso kannst du eigentlich die Vergangenheit nicht ruhen lassen?“
 
Sie seufzte, schüttelte den Kopf. „Shoyo, du hast eine unberechenbare Krankheit, und ich weiß, dass du es hasst, deine Tabletten zu nehmen. Ich habe einfach Angst, dass dir was passiert, wenn du so lange alleine bist.“
„Ich bin nich-“ Er biss sich auf die Unterlippe, um sich zu unterbrechen.
Zu spät. Sie blickte zu ihm, hob fragend die Augenbrauen.
 
Er schloss die Augen, sah wieder geradeaus, lehnte den Kopf gegen die Lehne und schloss die Augen, während er einmal tief durchatmete. „Mom… ich weiß, dass du dir immer Sorgen um uns machst, aber irgendwann musst du endlich einmal einsehen, dass wir auch einmal erwachsen werden.“
 
Sie sah auf ihre Finger, spielte mit den Daumen der jeweils anderen Hand herum. Eine Weile sagte sie nichts.
 
„Ich habe nur Angst, euch zu verlieren. Ihr zwei seid für mich die wichtigsten Menschen auf der Welt.“
Langsam sah Hinata zu ihr. Seine Mutter strich sich die Haare, die ihr lose ins Gesicht hingen, hinters Ohr, atmete dann tief durch, und er merkte anhand ihrer Mimik, wieviel Sorge sie wirklich in sich trug.
 
Er seufzte, erhob sich und setzte sich neben sie. Dabei sah sie nicht zu ihm, und er wusste in diesem Moment nicht, ob sie wirklich realisiert hatte, dass er dies getan hatte.
 
Vorsichtig umarmte er sie, und es dauerte nicht lange, bis sie die Umarmung erwiderte – Hinata wusste, wie schwer sie es gehabt hatte, seitdem sie und sein Vater sich hatten scheiden lassen.
Er hörte, dass sie etwas schniefte, doch er sprach sie nicht darauf an.
 
 
 
„Und du kommst wirklich zurecht?“
„Könnte besser sein, aber ja, es geht.“
 
Natsu presste nachdenklich die Lippen zusammen, während sie sich im verdunkelten Zimmer umsah, das nur von ihrer Nachttischlampe ausgeleuchtet wurde.
Sie lag mit dem Rücken auf ihrem Bett, hielt ihr Handy über ihrem Kopf. Auf ihrem Bildschirm sah sie Akio, der den Kopf auf den Armen abgelegt hatte – er lag mit dem Bauch auf seinem Bett, in seinem Zimmer war es im Gegensatz zu ihrem noch hell, da er zuvor noch etwas gelernt hatte.
 
„Sicher?“
„Jap“, sagte er, setzte dabei ein Lächeln auf, bei dem sie zögerte.
 
Akio hatte ihr in den letzten Tagen so oft gesagt, dass es ihm gut ginge, doch sie bemerkte, dass er irgendwie anders war, seitdem seine Mutter wieder zuhause lebte – vor einigen Tagen war sie aus der Klinik entlassen worden, und auch wenn Akio es niemals zugeben würde, bemerkte Natsu, dass ihm diese plötzliche Veränderung doch irgendwie zu schaffen machte.
 
Akio starrte einen Punkt hinter der Kamera an, und sie wusste nicht zurecht, ob er ihrem Blick auswich oder ob er dort irgendetwas sah – sie schloss Letzteres aus, da sie wusste, dass sich hinter seinem Handy nur die Wand und die Lehne seines Bettes befanden.
 
Sie seufzte, sah dann wieder in ihrem Zimmer herum.
 
„Und bei dir?“
„Was?“
„Wie geht’s dir?“
„Mir geht’s gut. Mein Bruder ist heute vorbeigekommen.“
Akio sah wieder in die Kamera, setzte sein bekanntes Lächeln auf, was Natsus Herz höher schlagen ließ. „Das freut mich.“
 
Natsu setzte sich in ihrem Bett auf, strich sich durch die Haare und gähnte müde. „Du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn du was brauchst.“
„Jap. Weiß ich. Danke.“
„Ich mein’s ernst.“
„Ich auch“, sagte er. „Danke dir. Wirklich.“ Er lächelte wieder, sah dabei in die Kamera, und es war einer dieser Momente, in denen sich Natsu so unendlich sehr wünschte, ihn jetzt bei sich haben zu können.
 
„Ich vermisse dich“, sagte sie leise, umschloss dabei die Kette, die Akio ihr per Post geschickt hatte, ganz fest.
„Ich dich auch…“
 
Eine Weile blieb es still.
 
„Wenn hier nicht gerade so ein Chaos wäre, würde ich ja sagen, ich fahr‘ nach Miyagi, aber… ja…“
 
Natsu nickte verständnisvoll, sah dabei zur Seite. Sie wusste, dass Akio nicht ständig zu ihr fliegen konnte, wenn sie das wollte, aber dennoch fühlte sie sich alleine und wünschte sich, sie würde in Tokio leben, obwohl sie bestens wusste, dass sie kein Großstadtkind war.
 
Ihr entkam ein verzweifeltes Seufzen, während sie wieder aufsah und sich mit der freien Hand über die Schläfen strich.
Dann kam ihr eine Idee.
 
„Und was, wenn ich zu dir kommen würde?“

Let my Heart beat for you - KageHinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt