Kapitel 11

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Es war schon später Abend, als die beiden Geschwister die Straße entlang nachhause gingen.
 
Hinata schwieg größtenteils, da ihn die ganze Atmosphäre, die Umgebung und teilweise auch bestimmte Häuser in die Vergangenheit versetzten.
Hätte er auch noch sein Fahrrad mitgehabt, hätte er sich wahrscheinlich wieder wie der Sechzehnjährige gefühlt, der spätabends nach dem Training nachhause fuhr.
 
Statt dem Fahrrad hatte er jetzt Natsu, die neben ihm her ging, die jedoch im Gegensatz zu Ersterem sprechen und fühlen konnte und merkte, dass mit ihrem Bruder etwas nicht stimmte.
 
„Ist alles okay?“, fragte sie nach einiger Zeit.
Gleich hatte er es nicht registriert, dass sie ihn etwas gefragt hatte, doch dennoch antwortete er schon bald – mit einer Gegenfrage. „Dasselbe sollte ich dich fragen. Ich meine, du wirst jetzt ganz schön was zu hören bekommen.“
„Jaja. Aber mir geht’s darum, was mit dir nicht stimmt, Onii-chan.“
 
Hinata seufzte, sah zu ihr rüber. „Darüber solltest du dir keine Gedanken machen müssen.“
„Geht’s wieder um-“
„Sag den Namen nicht, bitte.“
 
Natsu blickte unsicher zu ihm, als er wegsah. Sie neigte den Kopf, kniff etwas die Augen zusammen. „Wie soll ich mir darüber keine Gedanken machen, wenn ich sehe, dass es dir immer noch zusetzt?“
 
Der Ältere beschleunigte seine Schritte, um ihr zu verdeutlichen, dass er nicht reden wollte, doch wie seine Schwester war, wollte sie nicht aufgeben.
 
„Wieso willst du nicht mit mir darüber reden?“
„Lass es jetzt, Natsu. Es reicht.“
„Ich mache mir aber Sorgen!“
„Brauchst du nicht. Das sind Erwachsenenprobleme.“
„Das sagt Mom auch immer! Dieser verdammte Satz geht mir sowas von auf die Nerven!“
„Natsu, es reicht!“
„Wieso redest du nicht mit mir?!“
„ES REICHT!“, sagte er nun ganz laut.
 
Stille herrschte über den Platz. Grillen zirpten irgendwo.
 
Natsu sah noch besorgter als vorhin aus. „Shoyo…?“
Hinata sah zur Seite, strich sich über die Stirn.
„Du nimmst doch deine Tabletten, oder?“
 
Hinata starrte auf den Boden neben sich, genau auf die Wasserlache, in der er nach einer sich ewig anfühlenden Minute ein paar Regentropfen erkannte, die vom Himmel in diese tropften.
 
„Wir sollten schnell nachhause… Es wird gleich regnen“, wechselte er das Thema, zog sich dann die Kapuze über den Kopf, lief weiter.
 
Seine Schwester sah ihm hinterher, doch als wenige Sekunden später der Regen wie aus Wasserfällen herunterfiel, lief sie ihm hinterher – mit dem Kopf voller Sorgen.
 
 
 
 
Mit klopfendem Herzen öffneten sie die Haustüre, der Duft von frisch gekochtem Essen stieg ihnen in die Nase.
 
Die Schuhe waren noch kaum ausgezogen, da konnte Hinata schon näherkommende Schritte hören.
 
„Natsu! Wenn du noch einmal-“ Seine Mutter verstummte, als sie den Flur betreten und ihren Sohn gesehen hatte.
 
Eine Weile blieb es totenstill, und mit jeder Sekunde, die verging, wünschte sich Hinata ganz weit weg.
 
„Geh in dein Zimmer, Natsu.“
 
Die Jüngste sah auf. „Was? Wieso?“
„Tu’s einfach. Wir klären das nachher.“
 
Natsu sah zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder hin und her, dann rollte sie mit den Augen und lief nach oben in ihr Zimmer.
 
Seine Mutter – Ayumi – seufzte, dann musterte sie ihren Sohn von oben bis unten. „Seit wann bist du wieder in Japan?“, fragte sie ganz ruhig.
„Seit ein paar Wochen…“
„Und wieso hast du nichts gesagt?“
 
Hinata sah zur Seite, schwieg.
 
„Shoyo? Wieso hast du nichts gesagt?“
„Weil… weil ich keine Zeit hatte, euch zu besuchen. Und das… das kam mir unfair rüber, wenn ich euch anrufe und sage Ach, übrigens, ich bin wieder hier, aber ich kann nicht zu euch, weil ich direkt nach Tokio muss, und joa.“
 
Hinata hob die Schultern, starrte sie an.
 
„Wir haben telefoniert, Shoyo, als die Sache an ihrer Schule vorgefallen ist. Da hättest du ja was sagen können.“
„Gut, sehe ich ein, aber ich wollte eben nicht.“
„Also war dir dein Team wichtiger als die Tatsache, dass deine Schwester in Schwierigkeiten steckt?“
 
Dem Jungen klappte die Kinnlade runter. „Das habe ich nie behauptet!“
„So wirkt es aber auf mich, denn sonst hättest du schon längst was getan und dich nicht noch tiefer in diese Sache reingeritten.“
 
Unwissend darüber, was er sagen sollte, sah er in der Gegend herum, als würde sie ihm preisgeben, was er tun sollte.
„Ist das die Begrüßung, die ich bekomme, nachdem wir uns drei Jahre lang nicht gesehen haben?“, fragte er etwas leise.
 
Ayumi seufzte, schloss dabei kurz die Augen.
 
Eine Weile blieb es still, dann nahm sie ihren Ältesten in den Arm, strich ihm über den Rücken. „Du hast recht… das war nicht richtig“, gab sie zu, während sie ihm durch die orangefarbenen Haare wuschelte und ihn ganz fest umarmte. „Du hast mir gefehlt…“
 
Hinata lächelte etwas, während er diese Nähe genoss.
 
Nach einiger Zeit löste sie sich von ihm, legte ihre Hände auf seine Schultern, strich ihm über diese. „Willst du hier bleiben?“
„Wenn euch das keine Umstände bereitet, dann gerne.“
„Wieso sollte es das? Dein Zimmer steht noch genauso wie vorher, und ich koche sowieso immer mehr.“
 
Hinata musste etwas schmunzeln, dann nickte er einverstanden. „Okay, dann bleib ich mal hier.“
 
 
 
Nach dem Essen drückte er sich davor, in sein Zimmer zu gehen – wieso wusste er nicht genau, vielleicht hatte er Angst davor, dass bestimmte Erinnerungen in ihm hochkamen, die er längst in den hintersten Teil seines Gehirns gesperrt hatte.
So suchte er des Öfteren immer neue Gesprächsthemen bei seiner Familie, um länger unten bleiben zu können – so ging das zumindest, bis zuerst Natsu, dann aber auch seine Mutter schlafen gingen.
 
Unsicher stand er nun vor seiner alten Zimmertür, starrte sie an, als wäre sie ein wertvolles Gemälde in einer Kunstgalerie.
 
Langsam streckte er den Arm aus, um zum Türknopf zu kommen, doch ein gewisses Bauchgefühl sagte ihm, es einfach sein zu lassen.
Aber jetzt einfach so zu gehen, das konnte er wirklich nicht bringen.
 
Ein letztes Mal atmete er durch, dann öffnete er die Tür nach dem Motto kurz und schmerzlos.
Seine Mutter hatte Recht behalten, als sie gesagt hatte, dass das Zimmer noch genauso wie vorher stand – das konnte er jetzt sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne sehen.
 
Erneut atmete er durch, schloss die Augen, drehte dabei das Licht auf. Seinen Koffer stellte er neben der Kommode ab, dann sah er sich um – wie vermutet schlugen Erinnerungen an früher auf ihn ein, doch er versuchte sie so gut wie möglich zu unterdrücken.
Sein Blick fiel auf die leere Pinnwand neben seinem Schreibtisch, auf der früher dutzende Fotos gehangen waren. Vom Team, von Freunden, von Natsu – und auch von Kageyama.
Diese Bilder hatte er eine Woche vor seinem Aufbruch nach Brasilien heruntergenommen und in einer Kiste unter dem Bett verstaut, seitdem waren sie – hoffentlich – nie wieder berührt worden.

Let my Heart beat for you - KageHinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt