22: Die kalte Hitze

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Eine Berührung an meiner Schläfe, ein Kuss auf meiner Stirn und ein Streicheln durch mein Haar holen mich aus dem Nebel, in den ich nach Azarias' Verschwinden gefallen bin. Mein Körper schmerzt, das Pochen meines Kopfes ist nur wenig abgeschwollen. Aber es ist ein Schmerz, den ich ertragen kann, der mir weder Herzschlag noch Atem raubt. Aber der Kuss, die Lippen, die sich auf meine legen, tun es. Rauben meine Atem.

Mein erster Versuch den jungen Mann von mir zu schieben, ist erfolglos und der Druck auf meiner Lippe nimmt zu. Ist es das? Der Preis meiner Kapitulation? Muss ich doch einen Erben in die Welt setzten? Ein unschuldiges Mädchen dem König überlassen?

Als sich die Finger des jungen Mannes in meinen Nacken vorarbeiten, ein angenehmer Schauer mich überfällt und die kalte Berührung ein Feuer in mir weckt, strecke ich mich nach ihm. Die Angst fällt ab. Die Sorge verpufft. Mein Herz geht auf.

Ich ignoriere den Schmerz, der Prellungen in meinem Gesicht, und verliere mich ganz in der Zärtlichkeit. Dem Duft des Waldes und der Kälte, die eine Wärme in mir weckt.

Außer Atem löst sich Keir. Er funkelt mir mit wässrigen Augen entgegen und murmelt etwas Unverständliches.

Ich setzte mich auf, um mich an seine Brust zu ziehen, seinen Herzschlag zu hören und mich ganz in seinem Duft zu verlieren. Mir zu versichern, dass es kein Traum ist.

Als er mir über den Rücken streicht, kann ich den Schrei nicht unterdrücken. Der ultimative Beweis, dass Keir kein Traum ist. So aber auch all die schlimmen Dinge nicht. Die Gefahr durch den König. Die drohende Folter. Die Sorge, dass mein Bruder und Keir dasselbe durchmachen müssen.

„Was haben sie mit dir getan?" Tränen funkeln in Keirs Augen und seine Stimme zittert, als hätte er mitansehen müssen, wie die Peitsche wieder und wieder an meinem Fleisch zerrte.

Der junge Mann will mich von sich schieben. Vermutlich um die Wunden zu begutachten, doch ich klammere mich an ihn wie eine Klette. Jeder Schmerz, noch so schlimm, wird in seinem Arm erträglicher. Ich will und kann diese Nähe nicht aufgeben, ohne zu zerfallen.

„Kleiner Drache, bitte lass mich sehen."

Ich schüttele den Kopf. Erlaube den Tränen zu fließen und grabe mein Gesicht tiefer in seine Brust. Ich muss ihn beschützen. Ihn von hier und vor allem von mir fernhalten. Jeder in meiner Nähe wird mit mir verbrennen.

„Amaya." Ich schlucke schwer, doch lockere meinen Griff nicht. „Bitte." Ich schüttele erneut den Kopf.

Ich will mir nicht ausmalen, wie mein Rücken aussieht. Aber noch weniger will ich, dass er es wirklich sieht.

„Es tut mir leid, dass ich versagt habe", wispert er in mein Haar und ich rücke erschrocken von ihm ab, um in seine Augen zu sehen. Ein Dolch scheint durch mein Herz gedrückt zu werden.

„Das ist nicht deine Schuld!" Ich will nicht schreien, aber die Selbstanklage in seinen Augen ist schlimmer als die Peitschenhiebe, die mich gebrochen haben.

Er will etwas erwidern, doch ich schüttle den Kopf

„Keir! Du hast keine Schuld an all dem!" Ich kralle mich erneut an seine Brust. „Bitte, gib dir nicht die Schuld. Das überlebe ich nicht."

Als sich meine Atmung und sein Herzschlag beruhigen, löse ich mich, um in seine Augen zusehen.

„Was machst du hier? Wie bist du hierhergekommen?" Mein Blick geht durch den Raum. Wir sind allein. Wie bin ich hierhergekommen? „Wenn dich jemand sieht, bringen sie dich um", bemerke ich panisch und bekomme Angst um Keir.

„Der Junge, der dich in den Kerker gebracht hat, hat mich hierher geschmuggelt. Er hat gesagt, ich soll hier warten. Mich um dich kümmern. Er wollte Talib holen."

„Azarias?" Keir zuckt mit den Schultern und mustert mich noch immer besorgt. Er fährt behutsam über die Blessuren auf meinem Körper, um das Ausmaß zu erfassen. Dass ich erneut keine Knochenbrüche erlitten habe, ist dem Drachenflüstern zu danken, denn die Schläge waren nicht zimperlich.

„Die Spielregeln haben sich geändert. Heute Abend flüchtet Ihr und triumphiert das Spiel." Azarias' Worte klären meine Gedanken auf und ich erinnere mich an seine Rettung.

„Er will, dass wir flüchten. Er ..." Die Tür wird aufgerissen und ins Schloss geschlagen.

Keir schiebt sich augenblicklich vor mich.

Wir starren mit großen Augen zu dem schwarzhaarigen jungen Mann, der außer Atem an der Tür lehnt und eine Tasche umklammert hält. Eine Röte glüht in seinem verschwitzten Gesicht und er kämpft um eine ruhige Atmung.

„Planänderung. Ihr müsst sofort gehen."

Azarias stampft auf uns zu, drückt sich an Keir vorbei - den ich davon zurückhalte Azarias anzuspringen - und drückt mir die Tasche, die ein Buch zu enthalten scheint in den Arm.

„Was ist mit Talib!?", schreie ich entsetzt und springe auf. „Ich gehe nicht ohne meinen Bruder!" Mein Herz rast. Eine Flucht ohne meinen Bruder? Nur über meine Leiche!

„Wir lassen ihn nicht zurück!", bestärkt Keir und baut sich neben mir auf. Er greift meine Hand, da er bemerkt, dass ich schwanke.

Obwohl die Folter ihre Krallen nicht mehr in mich bohrt, beherrscht die Qualen noch meinen Körper. Raubt mir Kraft und die ganze Kontrolle über meinen Körper. Azarias scheint das auch zu bemerken und zieht besorgt die Augenbrauen zusammen. Eine Flucht würde unter gegebenen Umständen weiter erschwert, wenn ich bewusstlos werde, muss mich jemand tragen.

„Ihr geht vor. Euer Bruder ist beim Heiler. Das ist am anderen Ende des Palastes. Ich hole ihn, nachdem ich Euch herausbringe. Mein Vater weiß nicht, dass Talib Euer Bruder ist. So lange ist er sicher. Aber Ihr nicht."

Ich schüttele den Kopf. Ich werde ihn nicht zurücklassen. Es ist, als erwarte Azarias, dass ich mein Herz aus der Brust reiße und bei ihm lasse. Als wüsste er nicht, dass ich ohne das Organ nicht leben kann.

„Wenn mein Vater Amaya erneut in die Finger bekommt, kann auch ich sie nicht mehr retten", wendet er das Wort an Keir, dessen Griff um meine Hand fester wird. Das Buch presse ich fest an meine Brust, als könne ich somit nicht von meinem Bruder gerissen werden.

„Ich geh nicht ohne Talib", bringe ich unter Tränen mit zittriger Stimme hervor.

Die Seelenflammen auf meiner Haut lodern, das Drachenflüstern bestärkt meinen Ausdruck und ich sehe Azarias an, dass er es ebenfalls bemerkt.

„Euer Bruder liebt Euch sicher weit mehr als ich und ich kann mir nicht vorstellen, dass er wollen würde, dass Ihr Euch für ihn in Gefahr bringt. Ich geh ihn holen. Ich verspreche es Euch. Aber, das kann ich erst, wenn Ihr außerhalb der Palastmauern seid." Keir hält einen Moment den Atem an und starrt zu dem jungen Mann. Ihm ist das Liebesgeständnis nicht entgangen und er zieht mich ein Stück näher zu sich.

Das blaue Drachenflüstern um Azarias wirbelt wie ein Sturm um ihn. Peitscht und heult und schlägt wie ein Orkan.

Mit einem Fluss aus Tränen nicke ich und wir folgen dem Drachenprinz durch einen versteckten Gang hinter einem Gemälde. Wir quetschen uns mit schnellen Schritten, die ich beinah nicht mithalten kann, durch den engen und feuchten Gang.

Als wir in die Abendröte brechen, stürze ich erschöpft und gequält auf die Knie. Meine Kraft ist bereits von der kleinen Strecke komplett ausgelaugt; mein Körper von Schmerzen geplagt. Meine Atmung pfeifend und röchelnd, als kämpfe ich um jeden Atemzug. Was ich tue.

Keir hebt mich auf seinen Arm. Ein schmerzliches Stöhnen wird an seiner Brust gedämpft. In einem zügigen Laufschritt kommen wir in der Bestallung an, wo Azarias schwarzes Monster besattelt bereitsteht. Ich schlucke schwer und blicke in das glühende Blau, das so zerbrochen wirkt wie das letzte Mal. Es war ein Abschied. Aber keinen, den er zu überleben glaubt.

„Eure Mutter hat mir ein besseres Leben geschenkt und nun begleiche ich meine Schuld. Auch wenn meine Seele mich mein Leben lang dafür verfluchen wird. Ich muss es tun, weil ich Euch liebe."

DrachenflüsternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt