Wie konnte ich glauben, dass die Folter mein Inneres gebrochen hat? Dass sie mir alles abverlangt hat, was ich an Lebensenergie habe?
Wie dachte ich, dass nichts diesen Schmerz übertrumpfen kann? Glauben, dass körperliches Leid alles überschattet?
Der Drache stürzt auf den jungen Mann mit der blauen Drachenseele, der sich vor meinen Bruder wirft. Ich sehe dem blauen Wirbel an, dass er versucht den Drachen unter Kontrolle zu bekommen. Die blaue Seele versucht, sich um den Drachen zu schlingen. Aber der schwarze Rauch liegt zu eng um das Tier, sodass kein durchdringen scheint.
Talib stolpert weiter in unsere Richtung, während Azarias dem Drachen ausweicht und versucht diesen vom Bann zu befreien.
Ohne nachzudenken, stürme ich los. Ich will zu Talib, der mehr stolpert, als rennt und ohne Azarias' Halt droht zu stürzen. Selbst aus dieser Entfernung sehe ich meinem Bruder die blasse Haut an. Doch Keir hält mich zurück. Auch ich schwanke und wäre beim nächsten Schritt gestürzt.
„Ich hole ihn!", sagt er streng und prescht auf meinen Bruder zu.
Ein Schrei zerreißt die Stille, die einen Herzschlag übernommen hat.
Mein Blick huscht von Talib zu Azarias. Der Drache hat seine Krallen in dessen Körper gerammt. Blut tropft über die schwarzen Schuppen und schimmert gefährlich in der untergehenden Sonne. Das Tier spannt seine Flügel und hebt mit dem jungen Mann, der leblos in den Krallen hängt, in die Luft. Wieso greift das Tier Azarias an? Eine Drachenseele?
Bevor der junge Mann zu einem undefinierbaren Fleck verschwimmt, lässt der Drache von ihm ab. Ein Schrei löst sich von mir, als der dumpfe Aufprall mein Herz zum Stillstand zwingt.
Die ganze Welt bleibt stehen.
Alles wird still und mein Blick gilt dem leblosen Körper, des jungen Mannes, der aufgrund meiner Freiheit gerade sein Leben lassen musste.
Ein erneutes Brüllen der Kreatur reißt mich aus der Starre und mein Herz setzt weitere Schläge aus. Der Drache stürzt auf Talib.
„Nein!"
Ich raufe meine ganze Kraft zusammen und renne Keir nach, der nur noch einige Meter von Talib entfernt ist, als dieser in die Luft gerissen wird.
Mein Bruder schreit.
Der Klageruf schneidet wie Messer in meiner Seele, zerreißt mein Herz und ich verliere die Kontrolle. Feuer wütet um mich. Flammen schießen wie bei einer Explosion von mir und verbrennen alles in meinem Umfeld. Hinterlassen die Erde schwarz, in Rauch gehüllt und von Glut beherrscht. Keir steht gerade noch außerhalb des Feuerballes, sonst wäre auch er ihm zum Opfer gefallen.
Der schwarze Nebel um den Drachen verliert sich - zu spät.
Das Tier, das in unbeschreiblicher Höhe dem Bann der Drachenstimme entrissen wird, hat meinen Bruder bereits losgelassen. Talibs Körper prallt, wie der von Azarias, mit einem dumpfen Schlag wenige Schritte von Keir auf. Dieser hetzt zu meinem Bruder und erreicht ihn, als ich erneut auf die Beine komme.
Doch meine Füße tragen mich zu langsam.
Pferde wiehern, Wächter lösen sich aus den Schatten des Palastes und der Drache brüllt erneut.
Keir blickt über die Schulter zu unseren Verfolgern, dann zu mir und hechtet auf mich zu. Blut auf seiner Kleidung und seinen Händen bringt mich zum Straucheln. Er erreicht mich in dem Moment, in dem ich stürze, hebt mich an und läuft von meinem Bruder.
„Talib braucht mich!", schreie ich und versuche mich gegen den Griff zu wehren. Ich ignoriere die Wächter, die näher kommen.
„Talib!", schreie ich meinem Bruder zu, doch er rührt sich nicht.
„Ich muss ihm helfen, Keir!"
Meine Worte sind ein unverständliches Kreischen, während ich auf ein Lebenszeichen meines Bruders warte.
„Er ist mein Bruder! – Er braucht mich!"
„Amaya, es ist zu spät!"
„Nein!"
Mein Herz scheint nicht mehr schlagen zu wollen, meine Lungen demselben Schicksal der Kapitulation zu erliegen. Alles bis auf dem Körper meines Bruders verschwimmen.
„Er ist tot."
Die Worte zerreißen mich.
Weshalb mein Feuer nicht erneut alles versenkt, weiß ich nicht. Doch es rettet Keir das Leben, denn dieses Mal wäre er in dem Kreis der Verwüstung gefangen.
Er hievt mich aufs Pferd, springt selbst auf und schon schießen wir über den Waldboden. Äste peitschen in unsere Gesichter, der Wind drückt gegen meinen schlaffen Körper und die Finsternis bricht über uns.
Die Bewusstlosigkeit wird von den inneren Schmerzen und Keirs Nähe ferngehalten, während Schluchzer wie Rotz aus mir strömen. Bittere verzweifelte Rufe nach meinem Bruder, füllen das Rauschen des Windes und Rasen meines Herzens. Meine Welt stürzt zusammen, während meine Gedanken das Geräusch vom Aufprall meines Bruders wiederholen.
Ich bemerke zuerst nicht, dass wir langsamer werden, sacke ganz in Keirs Griff, der mir Worte zu flüstert, die ich nicht verstehen kann - oder will.
Er hebt mich vom Tier und setzt mich behutsam ab. Vor meinen Augen sehe ich Talibs Körper, der auf den Boden aufprallt. Wieder und wieder und wieder.
Ich werde von einem Schmerz betäubt, der mich daran zweifeln lässt, ob ich noch am Leben bin.
Mit jedem Atemzug bekommt die Wut erneut ihren Platz.
Mein Blick fällt auf die mich umgebenden Seelenflammen. Ein blauer Schimmer, der dort zuvor keinen Platz hatte, schlingt sich um die roten Zungen, die wie mein Inneres stürmisch flackern. Ohne es je gesehen zu haben, weiß ich, was es ist. Wie es entstanden ist.
Eine blaue Drachenseele – geboren durch den Schmerz einer roten.
Meine Hände verkrampfen, als die Wut mich übernimmt. Die Trauer, den Schmerz und den Verlust überflutet und alles in mir beherrscht.
„Amaya, sprich mit mir." Keir kniet vor mir, umklammert mein Gesicht. Seine Augen sind gerötet, doch die Spuren der Tränen wurden vom Wind genommen.
Ich nehme einen tiefen Atemzug, recke meine Schulter und festige meine Stimme.
Der König wird den Tag bereuen an dem er meine Mutter tötete! An dem er entschied mich zu jagen! Mich gefangen nahm und folterte! Doch vor allem den heutigen, an dem er meinen Bruder und Azarias vom Drachen töten ließ!
Er wird sich wünschen, ich wäre nie geboren. Er wird leiden! Alles verlieren!
Was er mit seiner Folter gebrochen hat, setzt sich zu einer Waffe zusammen, die nach seinem Blut dürstet.
Mit einem knurren, das an den Drachen erinnert, antworte ich, „Wir spielen sein Spiel - und werden Gewinnen!"
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Drachenflüstern
Fantasía„Ist das alles ein Spiel für dich?", fragt er so wütend, wie lange nicht mehr. „Ja, ist es!", entgegne ich entschlossen. „Ich sterbe lieber mit einem Lächeln auf dem Gesicht, anstatt einem Blick über die Schulter." Amaya ist ihr ganzes Leben auf der...