18: Nicht jedes Wiedersehen bringt Freude

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Wie ein Kleinkind trommle ich auf Azarias' Rücken, strample mit den Füßen und versuche mich zu befreien. Ich schreie nach Keir und beschimpfe den jungen Mann, der mich über die Schulter geworfen hat. Doch dieser ignoriert meine verzweifelten Rufe, mein Schluchzen und meine Ausbruchsversuche zurück zu Keir zu gelangen; dessen Rufe nach mir, in Endlosschleife in meinem Kopf nachhallen.

Als eine Tür ins Schloss gedonnert wird, verstumme ich einen Atemzug und erkenne, dass wir in einem Gemach stehen. Vom Palast und dem Weg hierher habe ich nichts mitbekommen.

„Ihr müsst Euch beruhigen!", knurrt Azarias. Nicht bedrohlich, aber verärgert. Wieso ist er denn wütend?

„Ich will zu Keir! Ich will zu meinem Bruder! Ich muss ihm helfen!", schreie ich verzweifelt.

Als er mich vor sich absetzt, will ich zur Tür jagen, doch er umklammert meine Oberarme so stark, dass ich mich nicht rühren kann. Mein Herz schmerzt mit jedem Schlag. Mein Kopf malt die schlimmsten Szenarien aus und mein Körper ächzt vom tagelangen Ritt.

„Wenn Ihr Euch beruhigt, lasse ich einen Heiler zu Eurem Bruder schicken!"

Obwohl alles in mir von Wut und Verzweiflung geladen ist - mein Herz, meine Atmung, meine Gedanken -, gelingt es mir meine Gegenwehr mit einem Schlag fallen zu lassen. So abrupt, dass meine Knie nachgeben und Azarias mich nicht vor dem Sturz bewahren kann.

Der explosive Schmerz mischt sich zu meinem gequälten Inneren und bricht mit einem entsetzlichen letzten Schrei aus mir. Wenn Talib stirbt, ist es meine Schuld.

Der junge Mann zieht mich in eine Umarmung, die ich nicht will; doch aufgrund unserer Drachenseelen ist sie beruhigend und genau das, was ich brauche, um nicht zu zerfallen. In einem anderen Leben wäre Azarias mein Keir geworden. Aber in diesem gehöre ich Keir, Drachenseele hin oder her. Doch in diesem Moment gilt meine Sorge meinem Bruder, weshalb ich die Verbundenheit unseres Drachenflüsterns in den Hintergrund schiebe.

„Er darf nicht sterben", schluchze ich, als ich erneut zu Atem finde.

„Das wird er nicht. Das verspreche ich", antwortet Azarias in seiner mir bekannten ruhigen Art.

„Das kannst du nicht." Wer weiß, was Talib sich eingefangen hat? Was der König mit ihm macht?

Azarias löst sich aus der Umarmung, legt seine Hände um mein Gesicht und führt meinen Blick in seinen. Obwohl die Welt verschwommen ist, sehe ich seine blau glühenden Augen deutlich.

„Ich habe Euch versprochen, dass Euch nichts geschieht. Ich schwöre auf mein Leben, dass ich Euren Bruder nicht sterben lasse." Mein Atem stockt, denn ich sehe ihm an, dass es ihm ernst ist. So sehr, dass ich ihm augenblicklich glaube und meine Nerven sich beruhigen.

Als der junge Mann jedoch meinem Gesicht gefährlich nah kommt, zucke ich zusammen. Mehr als einmal hätte er mich in den letzten Wochen beinah geküsst. Der Zug unserer Seelen war teilweise so stark, dass ich nachgeben wollte, um das Verlangen zu stillen. Doch ich habe mich an Keir geklammert, dessen Liebe nichts mit einer geteilten Seele zu tun hat. Echt ist. Ob Azarias ein solcher Anker fehlt? Eine Liebe so echt, um nicht diesem Drang nachzugeben? Oder ist meine Drachenseele zu seinem Anker geworden?

Ich atme erst auf, als Azarias seine Stirn an meine legt. Noch immer spüre ich Keirs Lippen auf meinen. Ich will die Berührung nicht verlieren. Obwohl diese kalt ist, ist das Gefühl in meinem Inneren keines, das Azarias je erreichen kann. Eine Liebe, die durch Jahre aufgeblüht ist. Ein Vertrauen, das erkämpft wurde. Eine Bindung, die durch harte Zeiten geschmiedet wurde.

„Ich verstehe jetzt, weshalb Eure Seele gegen Euer Herz kämpft", wispert er kaum verständlich in Drachensprache. So leise, dass ich nicht sicher bin, ob ich es richtig verstanden habe. Doch der seichte Kuss auf meine Wange unterbricht den Gedankengang.

Mit dem Daumen streift er die Spuren meiner Trauer von den Wangen und wirkt dabei so verzweifelt wie ich. Den Tränen so nah, wie noch nie. Als habe ich sein Herz genommen, aus der Brust gerissen, zerstampft und in den Wind geschickt - und nicht andersherum. Glaubt er mich zu lieben?

„Ihr solltet Euch ausruhen, etwas frisch machen und Euch sammeln. Der König wird Euch am Abend sehen wollen. Wir sollten ihn nicht verärgern. - Er ist ein gefährlicher Mann." Der junge Mann streicht mir über die Wange, aber die Geste scheint seiner eigenen Beruhigung bestimmt zu sein. Seine Warnung, ihn zu besänftigen. „Lasst Euren Biss zurück, Feuerfunke", neckt er mich und küsst meine Stirn.

Er stemmt sich auf und tritt zur Tür.

„Bitte verlasst das Gemach nicht. Es wird Euch mehr schaden, als helfen. Auch Euren Bruder." Mit diesen Worten und einem gebrochenen Ausdruck in den Augen verschwindet er.

Was mich letzten Endes in das Waschzimmer treibt, in die Badewanne und in das Kleid, das mir bereitgelegt wurde, weiß ich nicht. Meine Gedanken gelten ganz Keir, der bleich wirkte, dünner als zuvor und so traurig. Und vor allem Talib, den ich nicht sehen konnte. Dessen Zustand somit meiner Fantasie obliegt und ich mir die schlimmsten Szenarien ausmale. Nur Azarias' Schwur - sich um ihn zu kümmern - beruhigt mich so weit, dass ich atmen kann und nicht zerbrösle.

Doch zur Ruhe finde ich nicht.

Als es an der Tür klopft, zucke ich so kräftig zusammen, dass ich beinah stolpere und ein Schreckschrei Azarias als Bitte einzutreten ausreicht.

Er muss mir meine Sorge und Verzweiflung ansehen.

„Der Heiler war gerade bei ihm. Eurem Bruder wird es bald wieder besser gehen." Die Worte lösen eine solche Last von mir, dass ich dem jungen Mann um den Hals falle. Bevor ich mich versehe, will er seine Lippe auf meine legen.

Für den Bruchteil eines Wimpernschlag, will ich demselben Verlangen nachkommen, doch im letzten Moment wende ich mich ab.

„Azarias ..."

„Es tut mir leid. Ich ... es ..."

„Das Drachenflüstern", helfe ich ihm aus.

Er nickt. Aber in seinen Augen sehe ich, dass es mehr als der Drang unserer Seelen ist, der ihn zu mir zieht. Mein Herz ist vergeben. Diese Erkenntnis scheint das Blau seiner Augen zu splittern. Azarias liebt mich.

„Der König wartet", presst der junge Mann hervor und reißt mich aus der Erkenntnis.  Er nimmt einen tiefen Atemzug und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. „Bitte, lasst Euer Feuer hier. Pausiert das Spiel. - Er ist kein geduldiger Mensch." Ich sehe ihm an, dass die Drohung ernst gemeint ist. Sehe die Angst in seine Augen. Nicht nur für mich, aber auch um sich selbst.

Mit schwerem Magen folge ich Azarias durch die Marmorgänge, vorbei an prächtigen Gemälden und herrlich duftenden Blumen in aufwendigen Vasen, bis zu einer vergoldeten Flügeltür. Mein Herz schlägt bis zur Brust und ich bin dankbar über den Arm, den er mir anbietet und an den ich mich klammere.

Im nächsten Wimpernschlag stehen wir in der Mitte des leeren Saales. Lediglich ein Thron am anderen Ende. Ein kräftiger und großer Mann schreitet auf uns zu und mustert uns durch verengte Augen. Etwas umgibt ihn. Wie mein rotes Feuer und Azarias blaue Luft.

Ein schwarzer Schatten.

Eine Art Rauch. Mit ihm eine Kälte, die einen Schauer über mich zwingt und ein Unbehagen, das mich nach Luft schnappen lässt. Ich rücke näher an Azarias.

Der König streckt sich nach mir, legt die Finger an mein Kinn und zwingt meinen Blick in seine pechschwarzen Augen. Etwas fährt durch meinen Körper. Eine fühlbare Kälte, die mir den Atem raubt, mein Herz umklammert und meine Muskeln lähmt. Der Anblick paralysiert mich.

Der Gedanke an Flucht schreit so laut wie noch nie in meinem Kopf.

„So sehen wir uns wieder Ilaria Midori Anali."

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