Mit großen Augen starre ich auf den Palast vor mir. Ich habe mir nicht ausgemalt, wie wunderschön ein solch schrecklicher Ort sein kann. Der Ort, an dem mein Leid seinen Ursprung fand; der meiner Mutter das Leben kostete und meinen Bruder und Keir, wie auch mich, gefangen hält. Weißer Marmor hebt sich bis zu den Wolken in den Himmel. Unzählige Zwiebeltürme, an dessen Spitze die Fahne des Königshauses wehen, und bunte Fenster in den unteren Bereichen. Ein prächtiger Garten in den schönsten Farben, fröhlich zwitschernde Vögel in kleinen Planschbecken und geschmückt von vergoldete Elemente, wohin ich sehe.
Ich sitze erneut vor Azarias, der auf meine Bitte die Berührungen auf das Nötigste beschränkt. Die Verknotungen unserer Seelen sind, trotz des Gegenkampfes, - um nicht dem Hoch dieser zu verfallen, - verlockend und angenehm. Dem jungen Mann nicht um den Hals zu fallen, als sei er mein Liebhaber und kein Fremder, wird mit jedem Tag schwerer; obwohl mein Herz einem anderen gehört. Meine Seele zerrt mich in eine Richtung und mein Herz in eine andere, dabei zerreiß ich in zwei. Aber in diesem Moment fällt selbst dieser Drang in den Hintergrund. Nicht einmal der eisige Wind, der zugenommen hat, desto weiter wir in den Norden ritten, stört mich.
Nachdem der junge Mann vom Pferd gleitet, rutsche auch ich von dem schwarzen Monster, das über die letzten Wochen nicht länger so beängstigend wirkt.
„Willkommen zu Hause, Zari!" Eine fremde Männerstimme reißt mich aus der Trance. Ich wende mich zu dem Mann, der Azarias umarmt und auf den Rücken klopft. „Ich habe dich vermisst, Bruder. Was hat so lange gedauert?"
Der Fremde mit hellbraunem Haar und grünen Augen lacht und löst sich von Azarias. Synchron wenden die beiden sich zu mir. Mit einem Mal fühle ich mich nackt, obwohl Azarias mir erlaubt hat Hosen zu tragen.
„Du hast sie also gefunden?" Der Fremde lächelt mich an und klopft Azarias erneut auf die Schulter. „Vater wird begeistert sein."
Der Fremde, der in etwa in meinem Alter ist, tritt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen.
„Prinz Theodor Demetrius Augustinus. Aber Ihr könnt mich Theo nennen." Ohne die Hand anzunehmen, blicke ich ungläubig dem Prinzen entgegen. „Und Ihr seid?", fragt er nach einigen Herzschlägen der Stille.
Der Prinz kommt persönlich, um uns zu begrüßen?
„Keine Frau der vielen Worte, wie ich sehe", lacht Theo und senkt seine Hand. „Ich hoffe, mein Bruder und Ihr konntet Euch auf der langen Reise etwas besser verstehen, sonst musste es schrecklich sein."
Nach dem Zwischenfall mit dem Drachen wurde es tatsächlich unangenehmer. Der Kampf meiner Seele, ein allgegenwärtiger Drang. Ein Verlangen, das Azarias bereits seit Anfang zu unterdrücken schien. Ebenfalls war es der Beginn, die Spielregeln zu lernen. Meine Drachenseele zu erkunden, zu verstehen und zu beherrschen. Letzteres weniger erfolgreich. Ohne es zu wissen, hat Azarias mir beigebracht, wie ich meine Kraft nutzen kann, um - sobald ich Talib und Keir finde - von diesem Ort zu flüchten. So hoffe ich zumindest. Denn die Theorie und die Praxis sind zwei verschiedene Goldtöpfe.
Aber der Gedanke der Flucht wird einen Moment beiseitegeschoben, als eine andere Erkenntnis das Durcheinander beiwohnt. Bruder. Drachenprinz. Prinz.
„Azarias ist dein Bruder", sage ich verblüfft an Theo und wende mich zu dem schwarzhaarigen jungen Mann, der keine Ähnlichkeiten mit dem Fremden hat. „Du bist ein Prinz? Der Sohn des Königs?" Es erklärt seine formelle Sprache. Das gute Benehmen, das er pflegt, und die Art, wie er sich hält. Aber vor allem den Respekt der Wächter – den ich, bis eben, nicht begründen konnte.
„Ihr könnt ja doch sprechen." Theo lacht und mein Blick zuckt zurück in das Moosgrün seiner Iriden. „Nicht ganz. Zumindest nicht durch Blut geboren. Aber wir sind gemeinsam aufgewachsen. Wie Brüder", beantwortet Theo und legt seinen Arm um Azarias, der ungewöhnlich still ist. „Wenn Ihr Geheimnisse, verdorrte Kindheitserinnerungen oder Vorlieben meines Bruders erfahren wollt, seid Ihr jederzeit willkommen bei mir vorbeizuschauen."
DU LIEST GERADE
Drachenflüstern
Fantasy„Ist das alles ein Spiel für dich?", fragt er so wütend, wie lange nicht mehr. „Ja, ist es!", entgegne ich entschlossen. „Ich sterbe lieber mit einem Lächeln auf dem Gesicht, anstatt einem Blick über die Schulter." Amaya ist ihr ganzes Leben auf der...