Verzweiflung

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Kapitel Eins – Verzweiflung


Ver·zweif·lung

Substantiv, feminin [die]

Zustand völliger Hoffnungslosigkeit




Hohe Buchen säumten den finsteren Pfad, den sie angespannt entlang schlich. Es war eine törichte Idee, mitten in der Nacht und auch noch bei Vollmond aufzubrechen, doch die Gelegenheit war so günstig, wie jede andere auch. In der Nacht fühlte sie sich zum Teil sicher. Hier war sie vollkommen allein mit ihren Gedanken. Der seelische Schmerz war dann nur ihr eigener und sie konnte wenigstens für ein paar Stunden aufatmen. 

Seit dem Ende des Kriegs schlief sie lieber am Tag und war dafür oft nachts hellwach, denn die Alpträume waren am Tag, in dem lichtdurchfluteten Raum hinter den hellen Vorhängen ihres Gästebettes, nicht halb so präsent wie in der Dunkelheit. Denn in der Dunkelheit fanden die Schreie und die Angst oftmals den Weg zu ihr zurück. Die Hoffnungslosigkeit, die Hilflosigkeit, der Krieg. Das alles schlich sich wie zäher Nebel während des Schlafens in ihren Kopf und war der Auslöser für Ihre Panik-Attacken. 

Das Unterbewusstsein machte keinen Unterschied, ob etwas real war oder nicht. Es gaukelte einem das Beste oder das Schlimmste vor, ganz, wie es wollte. 

Und Hermine sah seit Monaten nur das Schlimmste. 

Verwüstung, Gewalt, Tod.

Es war nun fast ein halbes Jahr vergangen, seit der finalen Schlacht in Hogwarts, doch sie schaffte es einfach nicht, die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. So viele Unschuldige waren tot. Fred, Lupin, Tonks... so viele Lehrer... Professor Snape, der am Ende doch einer der Guten war...

...und Ginny.

Ihre beste Freundin wurde durch die Hand von Bellatrix Lestrange getötet und dieser Tod änderte alles. Hermine presste die Lippen aufeinander und versuchte, gegen die stummen Tränen anzukämpfen, die sich wie jedes Mal bei dem Gedanken an Ginny aus Ihren Augen stahlen.

Die Familie Weasley war daran zerbrochen. Molly und Arthur würden den Tod ihrer einzigen Tochter und ihrem gleichzeitig jüngsten Kind wohl niemals ganz verkraften können. Sie hatten zu viel verloren in diesem Krieg. Zwei geliebte Kinder, zwei Teile ihrer Familie. Selbst der Fuchsbau war zerstört worden und nur mühsam hatten sie ihn nach und nach wieder aufbauen können. George hatte den Laden aufgegeben und keiner wusste, wo er sich aktuell aufhielt und ob er jemals zurückkommen würde. Er war einfach fortgegangen. Und mit ihm sein jüngerer Bruder.

Ron hatte sie verlassen.

Ein ersticktes Schluchzen entwich ihr, während sie das kleine Buchenwäldchen hinter sich ließ. Ihr tränenverschleierter Blick fiel auf das dunkle Anwesen in der Ferne und für einen kurzen Moment zweifelte sie an ihrem Verstand, denn sie hatte keine Ahnung, was sie hier eigentlich tat und welches Ergebnis sie sich durch diese Aktion erhoffte. Hermine wusste, dass sie selbst irgendwie mit der Situation klar kommen würde. Früher oder später. Sie hatten gekämpft, sie hatten gehofft und sie hatten gewonnen, aber auch vieles verloren. So war Krieg nun mal. Man überlebte oder man starb. Ganz einfach.

Sie hatte zwar überlebt, doch richtig am Leben war sie nicht, das war ihr leider nur schmerzlich bewusst. Doch es gab jemanden, der noch viel schlimmer dran war als sie.

Harry. Ihr bester Freund litt. Harry hatte sich aufgegeben. Wer könnte ihm dies allerdings verdenken? Fast alle, die ihm jemals etwas bedeutet hatten, die er als seine Familie angesehen hatte waren tot oder fortgegangen. Seine Eltern, Sirius, Lupin, sogar Dobby! Dumbledore, der eher ein Großvater als ein Professor für Harry gewesen war, selbst Professor Snape, die, von seiner schrecklichen Tante einmal abgesehen, letzte lebende Verbindung zu seiner Mutter... und Ginny, seine erste große Liebe. Ron war ebenfalls weg, was ihm irgendwie auch keiner so richtig zum Vorwurf machen konnte, denn wie hätte Ronald Weasley seinem Freund in dieser Zeit beistehen und Harry Trost spenden können, hatte er doch selbst so viel verloren?

Nur sie war noch da. Hermine Granger.

Nach dem Endkampf hatte sie das Nötigste aus ihrem Elternhaus geholt und war mit Sack und Pack bei Harry im Grimmauldplatz eingezogen. Zimmer gab es genug und sie hatte Harry einfach nicht allein lassen können. Ihre Eltern hatte sie noch nicht wieder aufgesucht und entschieden, dass diese es in Australien gut und gerne noch etwas aushalten konnten. Hermine war noch nicht bereit dafür, wieder in ein normales Leben zurück zu kehren. Wie könnte sie auch, nach all dem, was passiert war?

Doch die letzten Monate mit Harry allein in diesem großen Haus waren die einsamsten ihres ganzen, jungen Lebens gewesen. Es stand schlimm um den Jungen, der für einen viel zu hohen Preis überlebt hatte. Tagsüber redete er fast nie ein Wort, er aß nur sehr unregelmäßig und starrte die meiste Zeit die Wand an. Manchmal kramte er alte Erinnerungen hervor, jedoch zeigte er dabei nie auch nur irgendeine Emotion. Hermine hatte ihren besten Freund im letzten halben Jahr nicht einmal weinen gesehen. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst, denn sie weinte oft. Aber es wurde weniger. Dennoch... Harry schaffte es offensichtlich nicht, den Schmerz zu verarbeiten. Sie hatte alles Mögliche versucht, wollte ihn sogar dazu bewegen, das letzte Schuljahr mit ihr zu wiederholen, doch davon wollte der ehemalige Gryffindor nichts wissen, darum war sie selbst auch nicht wieder nach Hogwarts zurückgekehrt. Er weigerte sich schlicht und ergreifend, wieder am Leben teilzunehmen. Hermine machte sich große Sorgen. Sie hatte versucht, ihn so gut sie eben konnte abzulenken, hatte in ihrer Verzweiflung sogar Muggel-Fernsehen und Spielekonsolen installiert, doch nichts half. Sie konnte ihm seinen Schmerz nicht nehmen, denn Harry ließ ihn erst gar nicht zu. Es machte den Anschein, als hätte Harry Potter eine unsichtbare Mauer um sich herum errichtet und nichts und niemand schaffte es, diese zu durchbrechen. Selbst seinen neuen Zauberstab hatte er so gut wie noch nicht in den Händen gehabt.

Seit einigen Wochen versuchte Hermine einen Ausweg für Harry aus seiner Lethargie zu finden, bisher jedoch ohne Erfolg. Es war niemand da, der den jungen Potter aus seinem Leid befreien konnte. Nur sie selbst, aber das reichte nicht. Ihre eigene Trauer war noch zu stark, sie konnte ihm nicht helfen. Sie würden beide daran zerbrechen. Doch vor wenigen Tagen hatte sie eine Idee gehabt. Eine zugegebener Maßen sehr dumme und törichte Idee, aber immerhin ein Strohhalm, an den sie sich klammern konnte.

Mittlerweile hatte sie auch das letzte Stück des Wegs hinter sich gelassen und stand nun vor dem riesigen, düsteren Anwesen, welches sich beeindruckend in den schwarzen Nachthimmel erhob. Erleichtert seufzte sie auf, denn in den oberen Stockwerken brannte Licht. Er war also zu Hause. Zumindest hoffte sie das, denn er war momentan ihr letzter Ausweg und bei Merlin, sie hoffte, dass sie nicht falsch lag. Bedächtig griff sie mit zitternden Fingern nach dem silbernen Türklopfer, der – wie sollte es auch anders sein – das Abbild einer Schlange darstellte, die sich selbst in den Schwanz biss. Sie hörte wie ihr schwaches Klopfen im Inneren des Anwesens magisch verstärkt wurde und laut wieder hallte. Abwartend trat sie einen Schritt zurück und atmete tief durch. Ihr warmer Atem hinterließ dampfende Wölkchen in der kalten Novemberluft. Bald würde es sicher den ersten Schnee geben, mutmaßte sie. In Gedanken zählte sie die Sekunden und wollte schon wieder kehrtmachen, als sie langsame Schritte hinter der Türe in der Eingangshalle vernahm. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf den Hausherren frei, dessen Anblick ihr, trotz aller Feindschaft, in gewissem Maße nahe ging und Hermine versuchte ihre Verwunderung so gut wie möglich zu verbergen. Als sie ihren Plan gedanklich ausgearbeitet hatte, da hatte sie ihn sich so hochnäsig wie eh und je vorgestellt, doch er wirkte angeschlagen. Tiefe Augenringe zierten sein sonst sehr ansehnliches Gesicht. Er sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen, sein Blick war ausdruckslos und wenn er überrascht war, dann verbarg er diese Tatsache jedenfalls gut. Hermine versuchte es nicht einmal mit einem Lächeln, war ihr doch auch so gar nicht danach zumute.

„Hallo, Malfoy."

„Was willst du hier, Granger?"

Ohne auf seine Frage zu antworten, zwängte sie sich an ihm vorbei und betrat das alte Herrenhaus. Die große Eingangshalle lag leer und verlassen vor ihr und das schummrige Kerzenlicht, das flackernd an den kahlen Steinwänden tanzte, verliehen ihr den Charme einer großen, düsteren Gruft. Hermine versuchte die Gedanken an das letzte Mal, als sie hier 'Gast' gewesen war, zu verdrängen. Ihr Blick huschte über den steinernen Fußboden, auf dem sie damals selbst gelegen hatte, schutzlos seiner irren Tante ausgeliefert. Reflexartig fasste sie sich an den Unterarm, auf welchem man immer noch die feinen, weißen Narben erkennen konnte, die ihre Stellung in der Zauberwelt aus der Sicht der Todesser verdeutlichen sollten. Schlammblut.

Leicht zittrig versuchte sie, sich zu beruhigen und atmete mehrmals ein und aus. Sie durfte jetzt nicht wieder panisch werden. Es bestand keine Gefahr mehr. Die Todesser waren entweder tot oder in Askaban. Einzig und allein Draco Malfoy lebte hier in diesem riesigen Manor. Voldemort war tot, genauso wie Bellatrix Lestrange. Der Krieg war vorbei.

„Granger?", wollte Draco nun eindringlicher wissen, nachdem er die Türe hinter ihnen hatte ins Schloss fallen lassen. Hermine drehte sich um und blickte ihm direkt in die Augen.

„Ich brauche deine Hilfe, Malfoy." Das klang irgendwie so falsch, aber hatte sie eine andere Wahl? Lange genug hatte es gedauert, bis sie sich endlich dazu durchringen konnte, Hilfe bei ihrem Erzfeind zu suchen. Dem Menschen, der sie jahrelang verhöhnt, gepeinigt und letzten Endes dann doch geschützt hatte. Die Welt war eindeutig aus den Fugen geraten.

***

Der ehemalige Slytherin betrachtete seine unerwartete Besucherin skeptisch. Was wollte Granger hier? Was hatte er denn eigentlich verbrochen, dass diese dämliche Besserwisserin ihn selbst nach der Zeit in Hogwarts und nach dem Krieg immer noch nicht in Ruhe lassen konnte? Bei Salazar, er hasste diese neunmalkluge Granger. Gequält schloss er die Augen, als er an den Krieg zurückdachte. Dass sie heute hier unversehrt vor ihm stehen konnte, war zum Teil sein eigener Verdienst. Er selbst hatte Potter und seine Freunde damals gedeckt, als die Greifer das goldene Trio aufgegriffen hatten.

Er bereute es nicht, sie alle geschützt zu haben, denn ohne den heiligen Sankt Potter säße er selbst heute womöglich direkt neben seinen Eltern in Askaban, denn Harry hatte vor dem Zaubergamot für Draco ausgesagt und er wurde freigesprochen... aber dennoch. Ihm waren Potter und seine Freunde zu wider. Heute mehr denn je, denn manchmal, in seinen aller dunkelsten Stunden, da wünschte Draco sich, dass Voldemort gewonnen hätte. Nicht, weil er gerne ein Todesser war, oder weil er dachte, dass die Welt dann eine bessere wäre, nein, das ganz und gar nicht, er verabscheute all das – hasste das dunkle Mal auf seinem linken Unterarm. Aber hätte Potter dem dunklen Lord nicht den Garaus gemacht, dann säße er heute nicht allein in diesem riesigen Manor, sondern seine Eltern wären noch bei ihm. Doch wie man es drehen und wenden mochte, es gab kein Happy End für einen Draco Malfoy. Vermutlich hätte Voldemort ihn mittlerweile eigenhändig getötet, hatte er ja nicht mal seinen Auftrag zur Zufriedenheit dieses Tyrannen erledigt und Dumbledore, den alten Tattergreis aus der Welt geschafft. Ja, vermutlich war Potters Sieg über den dunklen Lord für ihn noch die beste Option gewesen. Er riss sich aus seinen düsteren Gedanken. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, denn hier stand immerhin Granger mitten in seiner Empfangshalle und erklärte ihm, dass sie, für was auch immer, seine Hilfe bräuchte. Er musste diese Nervensäge schnellstmöglich loswerden.

"Ich habe mein Soll erfüllt, Granger. Da ist die Tür!" Die Worte kamen wie Peitschenhiebe über seine Lippen und vernichtend starrte er das Mädchen, welches ihm unsicher gegenüberstand, in Grund und Boden und genoss dabei das Gefühl, wie sie sich unter seinem Blick sichtlich unwohl fühlte und immer kleiner wurde.

"Malfoy... Draco! Bitte...", wisperte sie leise und Draco bemerkte voller Entsetzen, dass ihre Augen anfingen, verdächtig zu glitzern. Was konnte von solch immenser Wichtigkeit sein, dass Potters beste Freundin hier so spät in der Nacht auftauchte und ihn unter Tränen um Hilfe bat? Frustriert stellte er fest, dass Granger seine Neugier geweckt hatte.

"Also gut", schnarrte er resignierend, ging gemächlich an ihr vorbei und machte sich auf in den ersten Stock. Er brauchte etwas zu trinken. "Komm mit, aber fang bloß nicht an zu heulen, ich werde nicht den Tröster spielen." Grinsend nahm er wahr, dass ihr ein überraschtes Keuchen entwich, ehe sie sich kommentarlos ebenfalls in Bewegung setzte, um ihm zu folgen.

***

Das Manor war riesig, aber das ganze Ausmaß wurde ihr erst bewusst, als sie im ersten Stock angekommen waren. Vor Ihnen lag ein langer, düsterer Korridor, der ebenso spärlich beleuchtet war wie die Empfangshalle. Sie zählte schnell die Türen – es waren mindestens acht, soweit sie sehen konnte. Und dies hier war nur der Ostflügel des ersten Stocks. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie viele Zimmer es in diesem Anwesen geben musste. Der Blonde führte sie in einen Raum, der ziemlich in der Mitte des Gangs auf der rechten Seite lag. Kaum hatten sie diesen betreten, entfachte sich der hohe Kamin an der linken Wand wie von Geisterhand selbst und das auflodernde Feuer tauchte den Raum in ein warmes Licht. Es war offensichtlich eine Art Büro, denn außer einer schlichten Sofaecke stand noch ein großer Mahagoni-Schreibtisch vor der hohen Fensterfront. Ohne weiter auf sie zu achten schritt Draco auf eben diesen Schreibtisch zu und brachte zwei Gläser und eine Flasche Feuerwhisky aus einer Schublade ans Licht. Mit einem dumpfen ‚Plopp' entkorkte er die Flasche und goss in beide Gläser einen ordentlichen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Hermine sah zu, wie die Kristallgläser kleine, tanzende Lichter auf das dunkle Holz des Schreibtischs warfen und stand regungslos mitten im Raum.

"Hier, Granger. Für die Nerven." Süffisant grinsend drückte Draco ihr eins der beiden Gläser in die Hand. "Setz dich", forderte er dann schlicht und wies mit der Hand, in der er sein eigenes Glas hielt, auf die dunkle Couch. Hermine kam seiner Aufforderung ohne große Widerworte nach und ließ sich vorsichtig nieder. Malfoy hingegen blieb stehen und lehnte sich lediglich am Schreibtisch an.

"Also?", wollte er in gleichgültigem Ton wissen und nahm einen Schluck aus seinem Tumbler. Hermine tat es ihm gleich und dieses Mal schossen ihr die Tränen wegen des scharfen Alkohols in die Augen und sie brauchte einen Moment, bis sie antworten konnte.

"Malfoy, ich... also ich weiß nicht, was ich noch tun soll, darum bin ich hier. Ich brauche deine Hilfe. Es geht um Harry." Betreten senkte sie ihren Blick. Es war ihr zuwider, hier vor dem ehemaligen Möchtegern-Todesser zu Kreuze zu kriechen, aber er war ihre letzte Chance.

"Und was bitte habe ich mit Sankt Potter zu schaffen?" Draco schnaubte und seinem Blick konnte Hermine entnehmen, dass er nach wie vor einen Groll gegen Harry hegte. Es gab nun mal Dinge, die würden sich nie ändern.

"Harry... er... er ist nicht mehr er selbst. Seit dem Kampf gegen Voldemort...", rang Hermine sichtlich nach Worten, fuhr dann aber mit fester Stimme fort. "Harry hat sich verändert seit dem Krieg. Der Tod seiner Freunde und vor allem Ginnys Tod, haben ihn kaputt gemacht. Ich komme nicht mehr an ihn ran. Er zeigt keinerlei Reaktion mehr, spricht nicht mit mir und wenn, dann nur oberflächliches Zeug. Ich bekomme ihn nicht dazu, regelmäßig zu essen, er schläft andauernd und ich glaube, wenn nicht bald etwas passiert, entgleitet er mir komplett. Ich habe Angst um ihn. Er... ich glaube er hat sich aufgegeben." Sie wagte nicht, den Blonden anzusehen denn sie konnte sich zu gut vorstellen, dass es ihn geradezu freuen musste, dass Harry Potter - sein Erzfeind - ganz unten angekommen war. Draco freute sich jedoch nicht. Zumindest nicht offensichtlich. Ausdruckslos starrte er in die Flammen des Kamins.

"Und wie kommst du zu der Annahme, dass ich dir dabei helfen könnte? Abgesehen davon, dass ich keinerlei Bedürfnis habe, irgendwas für Potter zu tun, versteht sich." Er hatte offensichtlich noch nicht ganz begriffen, was sie nun eigentlich von ihm wollte.

"Versteh doch!" Hermine war aufgestanden und ging nun auf den Slytherin zu. "Harry muss wieder etwas fühlen. Irgendetwas. Und es gibt niemanden mehr, der ein Gefühl in ihm hervorrufen könnte, denn sie sind alle tot. ALLE! Aber du... DU hast es immer geschafft, Gefühle in ihm hervor zu bringen!", gestikulierte sie verzweifelt mit den Händen in der Luft und Draco sah sie nur an, als sei sie verrückt geworden.

"Gefühle? Dein Ernst?" Er schaute, als hätte sie einen schlechten Scherz gemacht.

"Ja, Gefühle. Zwar keine positiven, aber er hasst dich! Wenn ihn jemand aus der Reserve locken kann, dann du!"

Draco sah sie weiterhin ungläubig an und schüttelte dann nur mit dem Kopf. In einem Zug leerte er sein Glas und stellte es geräuschvoll hinter sich ab.

"Granger...", setzte er an, während er die Arme abweisend vor seinem Körper verschränkte. "... geh nach Hause. Ich kann und ich werde dir oder Potter nicht helfen. Ist doch schön für Potter, wenn er nichts fühlen muss. Ich halte das ähnlich. Keine Gefühle, Granger. Nicht die geringsten", schnarrte er und sah sie überheblich an. "Und ich fühle mich schon dreimal nicht dazu berufen, Sankt Potter oder dir noch weitere Gefallen zu tun."

"Aber..." Hermine wusste nicht, wie sie auf die Ablehnung reagieren sollte. Sie hatte sich eigentlich von vorne herein keine großen Hoffnungen gemacht, dass ausgerechnet Draco Malfoy ihr helfen würde, doch ihre Verzweiflung hatte sie hoffen lassen. Sie wusste nicht mehr weiter. Alles in ihr weigerte sich, zu glauben, dass es keinen Ausweg für Harry geben sollte. Ihre Sicht verschwamm und unbeholfen stolperte sie ein paar Meter rückwärts und sackte auf dem Sofa zusammen. Sie wollte nicht vor Malfoy weinen, wirklich nicht, aber sie war am Ende.

***

Das konnte einfach nicht ihr verdammter Ernst sein. Was bildete sich dieses Schlammblut eigentlich ein? Er und den barmherzigen Samariter spielen? Wie stellte sie sich das überhaupt vor? Sollte er zu Potter gehen und dann... ja was eigentlich? Sollte er ihn reizen, bis dieser ausrasten würde? Oder sollte er lieb ‚Bitte bitte, werde wieder normal, Potter' sagen, oder wie bei Slytherins Krückstock hatte Granger sich das vorgestellt? Nein, er würde sie nicht fragen, beschloss er. Das kam alles so oder so nicht in Frage. Immerhin war hier die Rede von Sankt Potter.

Draco war sauer und dass Granger nun auch noch zu weinen anfing, machte die Sache nicht besser.

„Hör auf zu heulen!", fuhr er sie unwirsch an, doch Hermine reagierte nicht, sondern hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und ihre wilden Locken wippten auf und ab, während sie stumm aufschluchzte. Womit in drei Teufels Namen hatte er das verdient? „Verdammt nochmal! Ich hab gesagt, du sollst aufhören, hier rum zu heulen. Meine Güte, ich geh zu Potter und trete ihm in den Arsch, aber hör endlich auf mit dem Theater", knurrte er wütend. Toll. Ganz toll, jetzt hatte er den Salat. Zumindest würde er die Gelegenheit bekommen, gleich beide ganz am Boden zu sehen. Potter und Granger. Immerhin etwas.

Langsam hob sie ihren Kopf und sein genervter und wütender Blick traf ihren. „Ehrlich?", hauchte sie ungläubig. Granger sah aus, als wollte sie ihn geradewegs umarmen, doch stattdessen atmete sie tief ein und aus und versuchte ganz offensichtlich, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen.

„Ist ja nicht so, als wäre ich sonst großartig beschäftigt!", ätzte der Blonde mit einer ausladenden Handbewegung. Und das stimmte sogar, denn er hatte tatsächlich nichts Besseres zu tun. Seit Monaten vergammelte er hier im Manor und niemand scherte sich auch nur einen Dreck um ihn. Klar, Zabini hatte ihm mehrmals geeult, dass er seinen Hintern endlich mal aus dem ‚Palast der Finsternis' bewegen sollte, was er bisher stoisch ignoriert hatte, da er nicht in der Stimmung für dessen Gesellschaft war. Blaises immer gute Laune passte aktuell einfach nicht in sein Konzept. Doch sonst gab es da niemanden. Es kümmerte schlicht und ergreifend keinen, was er tat oder nicht tat oder ob er überhaupt noch lebte. Er war immerhin ein freigesprochener Todesser und nicht Prinz Charming.

Die letzten Monate waren lediglich eine Aneinanderreihung dunkler und noch dunklerer Stunden gewesen. Er hatte mittlerweile schon lange vergessen, welcher Tag eigentlich war und auf die Uhr sah er auch nur noch selten. Die meiste Zeit saß er in der hauseigenen Bibliothek und blätterte willkürlich durch irgendwelche Romane. Und wenn er mal Schlaf fand, was selten vorkam, dann wurde er von wirren Träumen heimgesucht aus denen er meist schreiend wieder erwachte. Nacht für Nacht. Wie erbärmlich.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann war Grangers Auftauchen das Highlight der Woche. Oder auch des Monats. Und DAS musste wirklich was heißen. Hermine räusperte sich und nahm einen weiteren Schluck ihres Feuerwhiskys.

„Prima, dann hole ich dich morgen am besten ab, oder?", meinte sie dann plötzlich geschäftig und erhob sich von dem dunklen Ledersofa, straffte ihre Schultern und schob ihr Kinn trotzig nach vorne. Ihr Ausbruch war ihr offensichtlich peinlich, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, was ihr auf ganzer Linie misslang.

„Ich bin durchaus im Stande, selbst den Weg zu finden."

„Das Haus kann nur mit einem Geheimniswahrer gefunden werden." Hermine verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Blonden auffordernd an.

„Ein Geheimniswahrer? Warum? Es gibt keinen Krieg mehr", wollte Draco ehrlich interessiert wissen, doch Hermine zuckte nur mit den Schultern.

„Es ist immer noch das Haus von Harry Potter, weißt du?"

Draco nickte nur. Natürlich, so entkam der Weltenretter wenigstens dieser vermaledeiten Kimmkorn und auch sonstigen, aufdringlichen Stalkern und Fans. Bei Merlin, er hasste Potter. Hermine riss ihn aus seinen Gedanken. „Also, morgen gegen Mittag?"

„Dafür schuldest du mir was, Granger, das ist dir hoffentlich klar."

SeelenheilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt