Unter Freunden

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Ich war noch nie bei McDonalds essen. Ich finde, das ist unnötiges Fett und Mastfleisch, dass ich niemals essen würde, hätte Carl nicht, alleine mit diesem freundlichen Lächeln, es geschafft, dass ich in einen BigMag beiße. Ich glaube, so gut, hat mir Fett noch nie geschmeckt. Carl muss in meiner Mimik gelesen haben und lacht, schon wieder. Er hat heute wohl ungewöhnlich gute Laune. "Und? So schlecht wie du dachtest?" Ich kann nicht antworten weil mein Mund noch voll ist und kaue schnell zu ende. "Hmmm, geht", untertreibe ich dann. Er lacht erneut. "Dir fallen doch bestimmt ein paar schöne Adjektive ein, oder Bücherwurm?" "Hör auf mich so zu nennen, Bad Boy", scherze ich. Er schüttelt seine Haare und wirft mir unter dichten Wimpern einen anzüglichen Blick zu, während er seine Lippen zu einem Kussmund formt. Ich lache auch. "Du könntest dir ja mal die Haare schneiden, dann kannst du vielleicht auch was sehen". Er legt den Kopf in den Nacken und zieht die Augenbrauen hoch. "Vergiss es. Wusstest du, dass ich mal Braids hatte?" Ich blicke überrascht auf seine Kopfhaut. Ich wusste das tatsächlich nicht. "Nein das war vor meiner Zeit auf der Southside. Wo hast du dir sie machen lassen?" Er verschluckt sich an der Cola, an der er gerade getrunken hat und weicht meinem fragenden Blick aus. "Ähh, weiß ich nicht mehr". Ich frage nicht weiter nach, aber ich habe das Gefühl, dass er nicht ganz die Wahrheit sagt. Doch wenn er nicht darüber reden möchte... da wechselt Carl schon das Thema. "Warum bist du eigentlich in dieses Dreckskaff gezogen? Bestimmt nicht wegen der schönen Aussicht auf die Müllkontainer". Ich gluckse. "Meine Eltern sind pleite gegangen". Er nickt wissend. "Scheiße". "Früher haben wir in einem äußerst luxuriösen Haus gelebt, wir hatten einen Pool und eine Sauna und so". Ich seufze. "Ich vermisse nicht mal unbedingt diesen Luxus. Also klar, irgendwie, aber was mir besonders fehlt, ist diese Sicherheit". Ich sehe Carl schief an. "Verstehst du was ich meine? Hier könnte ich jederzeit auf der Straße landen. Diese Gedanken haben mich früher nie geplagt. Ich hatte damals nur schlaflose Nächte wegen Jahresabschlussprüfungen oder weil ich Fieber hatte, wegen so etwas Banalem eben. Und jetzt...". Ich schaue auf die dreckige Tischplatte. Mitfühlend streichelt Carl über mein Handgelenk. Sofort breitet sich eine prickelnde Gänsehaut auf meinem Körper aus, wandert über meinen Oberarm, meine Schultern, meinen Nacken. Ich versuche es zu ignorieren. "Ich bin auf der Southside geboren, ich kenn es nicht anders", sagt er. Ich beiße noch einmal in den köstlichen Burger. "Das muss schwer für dich sein", redet er weiter. Ich nicke. "Wenn man nicht so auf Partys steht, kann es hier auch schnell sehr langweilig werden". Ein Schnauben entfährt mir. "Was habt ihr alle nur mit euren doofen Partys? Man wird plump angemacht, kippt brennende Shots runter und wacht am nächsten Morgen mit einem Kater auf". Carls Blick verdüstert sich. "Ich weiß es nicht. Vermutlich, wollen wir einfach mal für kurze Zeit vergessen, in was für ner Scheiße wir leben". Das macht irgendwie Sinn, aber dafür begeistern werde ich mich wohl nie können. "Wenn man nicht trinkt oder kifft, wie du, ist man natürlich gearscht". Ich nicke und beiße nochmal in meinen Burger. Ein paar Minuten sitzen wir nur schweigend da und essen. Als wir fast fertig sind, packt Carl plötzlich meinen Arm. Ich erschrecke mich sosehr, dass ich mich fast an meiner Cola verschluckt hätte. "Spinnst du? Du hast mich erschreckt", fahre ich ihn an. "Sorry". Er grinst. "Mistkerl". "Elodie? Darf ich dir was zeigen?" Misstrauisch runzele ich die Stirn. Ich mag Carl irgendwie, aber wie weit ich ihm trauen kann, habe ich noch nicht ganz festgelegt. "Was denn?" Er lächelt. "Eine andere Möglichkeit, wie du die ganze Scheiße vergessen kannst". Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Irgendwie klingt das pervers. "Oh sorry, dass klang falsch, äh..." Carl fasst sich an die Nasenwurzel. "Keine Sorge, das meinte ich wirklich nicht, ich... lass mich dir die schönen Seiten der Southside zeigen".

Ich habe beschlossen Carl zu vertrauen. Ob das ein Fehler war? Vielleicht. Ich bin mir da wirklich langsam nicht mehr so sicher, als ich ihm durch die, inzwischen in blutrotes Sonnenuntergangslicht getauchten Gassen folge. Er dreht sich immer mal lächelnd zu mir um und versichert mir, dass alles in Ordnung sei. Wahrscheinlich sollte ich einfach wegrennen. In meinem Rucksack habe ich mein Smartphone, ich könnte einfach meine Mutter anrufen, sie würde mich abholen und ich würde ihr endlich meinen wahren Aufenthaltsort des Wochenendes verraten. Doch ich tue es nicht. Als wir eine stoppelige Rasenfläche betreten, versinkt die Sonne gerade hinter dem Horizont und hüllt uns in schwarze Nacht. Ist es heute Abend dunkler als sonst, oder bilde ich mir das ein? Mein Herz schlägt ungesund schnell. Ich bleibe kurz stehen. Als Carl das bemerkt, kommt er zu mir zurück. "Alles in Ordnung?" Ich schüttele den Kopf. Besorgt mustert er meine, vermutlich bleiche, Haut. "Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist". Beruhigend nimmt er meine Hand. "Elodie, ich schwöre bei meinem Leben und dem meiner Geschwister, dass weder ich noch irgendwer dir irgendwas antun wird". Ich schaue ihm in die blauen Augen und meine Aufrichtigkeit darin zu erkennen. "Also gut", seufze ich. Ich folge ihm beruhigter, als er seinen Weg fortsetzt. Doch meine Hand lässt er dabei nicht los.

Wir überqueren die kurz geschnittene Wiese bis hin zu einem Maschendrahtzaun, hinter dem sich ein Waldgebiet befindet. Als Carl anhält, denke ich wir sind angekommen, doch er huscht wie ein Schatten zu einem Busch und biegt die Zweige beiseite. Ein, offenbar mit einer Drahtschere geschnittenes, Loch wird offenbart. Er nimmt seinen Schulrucksack von seinem Rücken und schiebt ihn geschickt durch die silbernen Eisenfäden. "Äh Carl, ich glaube, das ist illegal". Grinsend wendet er sich wieder zu mir um. "Was denkst denn du?" Ich verschränke die Arme vor der Brust. "Sowas mache ich nicht!" Er verdreht amüsiert die Augen. "Elodie, wenn man sich hier immer an die Regeln hält, kommt man nicht weit". "Das stimmt nicht", eschauffiere ich mich. Er zieht eine Augenbraue hoch. "Wann hattest du schon mal ein richtiges Gefühl von Spaß, wenn du dich an Regeln gehalten hast?". Ich öffne den Mund um zu antworten, doch die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. "Als... als ich mit Sam einen Netflixabend gemacht habe". Er lächelt mich nachsichtig an. "Elodie, ich mein nicht, wenn du sicher und behütet vor dem Fernseher sitzt. Hast du jemals schon den Kick durch Adrenalin gespürt?" Wieder will ich antworten, ergebe mich dann jedoch und schließe den Mund wieder. Er hat ja recht. Das einzige Mal, war im Alibis, vor gerademal einer Woche. Und da habe ich mich eindeutig nicht an Regeln gehalten. "Dieses Gebiet wird weder Video überwacht, noch sind hier Bullen oder so. Niemand wird das erfahren, ok?" Er scheint in meinem Gesicht zu lesen, dass ich mich ergebe. "Gib deinen Rucksack", befiehlt er und ich gehorche automatisch, ohne weiter darüber nachzudenken, wie falsch das doch ist.

Ich folge Carl durch das Loch im Zaun. Wir kämpfen uns durch dichte Zweige von Bäumen und Büschen einen Abhang hinauf. Als wir eine kahle Hügelkuppe erreichen, lässt Carl seinen Rucksack an einen breiten Baum fallen, setzt sich ins Graß und lehnt sich dann an seine Baum-Rucksack-Lehne-Konstellation. Er klopft neben sich und zögernd folge ich seinem Beispiel. "Und was genau willst du mir jetzt zeigen?", frage ich verwirrt. Er deutet auf den Ausblick, direkt vor uns. Ich folge mit den Augen seinem Finger und keuche auf. Wir sitzen auf einer Anhöhe, die uns direkt über die Southside blicken lässt. Die Häuser, die von hier oben winzig aussehen, reihen sich wie Perlenketten aneinander und bilden ein unordentliches Labyrinth aus Stein, Zement und Holz. Aus vielen Fenstern leuchtet es, die billigen Straßenlaternen klecksen Licht wie Farbe auf eine schwarze Leinwand. Es sieht friedlich aus. "Wow, Carl, das ist... atemberaubend". "Ja nicht? Es ist zwar nicht Hollywood, aber wenn man so darüber schaut, mal abgesehen von den Hochhäusern, kannst du irgendwelche Unterschiede sehen?" Ich schüttele den Kopf. "Genau", sagt Carl nickend. "Schau mal nach oben". Ich lege den Kopf in den Nacken. Die Nacht ist glasklar, nicht eine einzige Wolke ist zu sehen. Dafür aber Abermillionen von Sternen, weiße Tupfer, die verschiedene Bilder formen, die ich, natürlich, alle erkenne. "Erkennst du den großen Wagen?", frage ich Carl. Der hebt eine Hand und versucht vergeblich Sterne zu verbinden, um das einfachste Sternbild zu finden, womit er mich zu Lachen bringt. "Ne, sorry", lacht er auch und ich nehme seinen Arm und zeige ihm, welche Sterne er verbinden muss. "Da ist das Scheißteil, ich dachte der wäre da!", beschwert er sich und ich lache wieder. Dann werden wir wieder leise und betrachten einfach diese unendliche Weite. "Wunderschön", murmele ich. "Stimmt". Doch Carls Blick ist nicht auf den Nachthimmel gerichtet, sondern auf mein Gesicht. Überrascht weite ich meine Augen und er wendet sich peinlich berührt ab. "Oh sorry, das klang jetzt wie ein Flirt, vergiss es einfach". Irre ich mich, oder wird der unnahbare Fuckboy Carl Gallagher rot? Ich lächele. "Schon gut". Wir setzten uns verlegen auf und lehnen uns wieder an den Baum. Er schielt wieder zu mir rüber und über seine harten Züge huscht ein so weicher Ausdruck, wie ich ihn sehr selten bei ihm zu sehen bekomme. Und wie am Sonntag nach meiner Putzorgie, verlieren wir uns in den Augen des jeweils anderen. Und ebenfalls wie Sonntag beugt sich Carl vorsichtig zu mir rüber, zögerlich. Er gibt mir die Chance, zurückzuweichen. Doch das habe ich nicht vor. Ich schließe meine Augen. Warte. Und werde nicht enttäuscht. Seine vollen Lippen berühren sanft die meinen und, als wären sie für einander geschaffen, wie zwei Puzzleteile, die endlich zusammenfinden, schließen sich unsere Lippen umeinander. Es ist mein erster Kuss, und schöner könnte er nicht sein. Sanft und zärtlich ist er, beinahe noch ein bisschen unbeholfen. Carl hebt seine Hand und streicht über meine Wange, schiebt meine blonden Haare, die mir wirr ins Gesicht fallen, zurück. Ich seufze leise auf und Carl tastet sich mit seiner Zunge vor, streift meine Unterlippe, meine Zähne und erkundet dann vorsichtig meinen Mund. Es ist ein ungewohntes Gefühl, aber ich würde nicht sagen, dass es unangenehm ist. Ich will nicht das dieser Moment endet, ich will für immer in dieser schillernden Blase gefangen bleiben. Doch sie platzt als Carl sich, nach bestimmt einer Minute, zurückzieht und mir bewusstwird, was wir da gerade getan haben.



Different worlds- ShamelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt