Verachtung

630 28 0
                                    

Ich war gerade soweit, dass ich zweifelte, ob meine Entscheidung die Richtige war. Ob ich überreagiert habe. Ob Carl das nicht in dem Ausmaß verdient. Ich war gerade soweit, dass ich mir eingestanden habe, dass ich, vielleicht, ganz vielleicht, nie aufgehört habe Carl zu lieben. Und ich war gerade soweit, dass ich ernsthaft darüber nachgedacht habe, Carl eventuell noch eine Chance zu geben. Aber nein! Ich weiß nicht was ich getan habe. Ich weiß nicht, ob ich mich einfach nur in seinen Gefühlen für mich geirrt habe. Aber vor allem weiß ich nicht, warum zur Hölle, Carl Francis Gallagher, mich wie Luft behandelt! Jedes Mal, wenn wir uns auf dem Flur begegnen, wenn wir im Unterricht sitzen, oder auf dem Schulhof, tut er so, als wäre ich non existent. Treffen sich unsere Blicke, dreht er den Kopf weg, er weicht mir auf dem Gang aus und verschwindet, in Toiletten Kabinen, sobald ich mich nähere und sogar, wenn ich ihn Grüße, tut er so, als hätte er mich nicht gehört. Und ich muss sagen... das geht mir tierisch auf den Keks! „Ms. Mellore, würden Sie bitte ein bisschen weniger Starren und mir die Antwort auf die Aufgabe 4b) nennen?", reißt Mr. Espinoza mich aus meinen verbitterten Gedanken. Irritiert blicke ich ihm in das halb verärgerte, halb besorgte Gesicht. Schließlich kann ich mich wieder sammeln. „Es... es tut mir, wirklich, schrecklich leid, aber ich habe nicht aufgepasst", murmele ich dann kleinlaut, und meine es auch so. Meine Aufmerksamkeitspanne gleicht zurzeit etwa der eines Goldfisches und auch meine Noten sind schlechter geworden. Ich habe angefangen zu rauchen und hatte eine Fake Beziehung um mich an meinem Ex zu rächen, ey mein Leben läuft! Tut mir sehr leid, dass ich ihrem Unterricht nicht folgen kann. All das sage ich natürlich nicht zu Mr. Espinoza, da ich mich nicht noch unbeliebter machen möchte, als ich es momentan ohnehin schon bin, aber ich denke es. Sein Blick wird jedoch weich. „Schon in Ordnung. Versuchen Sie einfach sich zu konzentrieren, ich weiß, dass das manchmal schwer sein kann. Teenager sein muss schwer sein". Er zwinkert mir freundschaftlich zu und ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Nicht wegen seiner Bemerkung, oder der Zwinkerei, das bin ich von diesem Lehrer gewohnt, sondern weil die ganze Klasse auf den Tischen liegt vor Lachen. Ich höre, dass auch Carl hinter mir leise kichert. Erzürnt fahre ich zu ihm herum und funkele ihn erregt an. „Was ist eigentlich dein Problem?", fauche ich. Mir ist klar, dass das nicht nur auf sein Lachen bezogen ist. Und ich weiß, dass es ihm genauso bewusst ist. Carl zieht eine Augenbraue nach oben und kippelt lässig mit seinem Stuhl. Er mustert mich genau wie unser Geschichtslehrer, wenn er jemanden eine Frage stellt, dessen Antwort derjenige wissen sollte, es aber nicht tut. Aber ich weiß nicht, warum Carl mich so behandelt. „Sag es mir!", keife ich ihn an, leiser nun, da sich die Klasse wieder beruhigt hat und Mr. Espinoza fortfährt uns etwas über Akustik mitteilt, auch wenn ich nicht ein Wort davon behalten werde. Er zieht die Braue noch ein wenig höher und schürzt die Lippen. „Als ab du das nicht wüsstest, Elle". Die Art, wie er meinen Spitznamen ausspricht (allein, dass er ihn überhaupt verwendet verunsichert mich), gepaart mit einem Blick, der vor Verachtung sosehr trieft, wie eine frischgeschnittene Honigwabe, lässt mich zusammenzucken. Mein Puls rast und ich beiße auf meiner Lippe herum. Was soll ich wissen? „Ms. Mellore, Mr. Gallagher!", ermahnt Mr. Espinoza mich erneut, etwas schärfer nun. Ich lächele entschuldigend und wende mich wieder meinem Platz zu. Auf die Sekunde genau fünf Minuten halte ich es aus, dann lasse ich „ausversehend" mein Mäppchen auf den Boden fallen. Ohrenbetäubend laut klingt das Geräusch der Stifte, die auf dem Boden aufschlagen und sich auf den schmutzigen Fliesen verteilen. Alle Köpfe wenden sich in meine Richtung und ich werde schon wieder heiß im Gesicht. „Ups, entschuldigen Sie", murmele ich peinlich berührt, während ich mich schon hinunter beuge, um das Malheur zu beseitigen. Als sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder der Tafel zuwendet, zische ich zu Carl hoch: „Ich weiß nicht was ich dir getan haben könnte, Carl. Abgesehen von meiner komischen Racheaktion. Warte, bist du deswegen sauer?" Er blickt mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zu mir hinunter. Dann seufzt er, fast schon ergeben. „Elle ich hätte mir einfach nie erträumen lassen, dass du dich, nur um "Rache" zu nehmen, auf ein solches Niveau hinunterlässt, checkst du? Etwas so Schlechtes, was dir selbst auch noch schadet und Ehre nimmt, hätte ich nicht erwartet. Du ähnelst Dominique mehr, als du ahnst, weißt du, und darauf kann ich gut verzichten. Also Fick dich!". Beinahe klingt seine Stimme traurig. Aber eben nur beinahe. Die Kälte dominiert und verschlägt mir den Atem. Ich vermisse es, wie er Elodie sagt. Aus seinem Mund klang es immer so zauberhaft, als wäre es wirklich eine Melodie, wie er einmal sagte. „Wie meinst du das, ich sei masochistisch?", hake ich nach ohne auf die Beleidigung einzugehen. „Wann habe ich mir denn selbst geschadet?" Ich hätte mich eher als sadistisch bezeichnet. Er schnaubt. „Dass du es selbst nicht erkennst, ist traurig. Ich hätte echt mehr von dir gedacht Elle". Dann habe ich alle Stifte eingeräumt und unsere Unterhaltung ist beendet.

Den ganzen Tag, in den restlichen Stunden und Pausen, auf dem Nachhauseweg und auch noch jetzt, zerbreche ich mir die Gehirnzellen an der Frage, was ich masochistisches getan haben könnte, dass Carl seine Meinung über mich, so radikal geändert hat. Ok, gut, eine Sache fällt mir dann doch ein. Jacob. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der Grund war. Denn dann wäre Carl mir gegenüber auch die letzten Wochen mit Verachtung gegenübergetreten, statt mit Trauer und Sehnsucht. Und ich habe deutlich gespürt, dass seine Emotionen echt waren. Seine Bemerkung über Dominique irritiert und verletzt mich zugleich. Ich bin wie Dominique? Ich bin eine ignorante, eingebildete, illoyale Bitch? Ich lasse meinen Kopf gegen die Bettkante sinken und stöhne gequält auf. Was habe ich falsch gemacht? Wenn ich es doch nur wüsste, dann käme ich mir nicht so verdammt dämlich vor. Ignorante, eingebildete, illoyale Bitch... Die Worte geistern in meinem Kopf herum und ich kann sie nicht verdrängen. Ignorante, eingebildete, illoyale Bitch... ignorante, eingebildete, illoyale... Bei dem Wort illoyale muss ich sofort wieder an Jacob denken und wie dreist er mich betrogen hat, nur, weil ich ihn nicht ranlassen wollte. Was für ein armseliger, trauriger Mensch er doch ist, dass er sich jegliche Art von Zuneigung und Bestätigung in Sex mit anderen Frauen sucht. Ich glaube, er hat Selbstkomplexe. Auch muss ich daran denken, wie Carl ihn zusammengeschlagen hat, als er mich noch nicht mit tiefster Abscheu angeblickt hat, sondern mit dem Blick, mit dem nur unglücklich Verliebte dreinschauen. Wie ich das vermisse. Ok nein, eigentlich vermisse ich es, wie er mich angesehen hat, als wir noch zusammen waren. Ich lasse das Gespräch zwischen mir und ihm an den Spinten Revue passieren. „Hey, ähm... also... ach ich... ich will dich nicht nerven, aber ich denke du solltest wissen, dass dein Jacob noch eine Andere hat". „Marlie, ich weiß. Du hast ihn zusammengeschlagen". Seine Miene verdüstert sich. „Warte... du weißt davon?" Ich nicke. „Ja klar. Es ist ja schwer zu übersehen". Er mustert mich entsetzt. „Ich... also ich hätte nie gedacht, dass du dich darauf... ach ist ja auch egal. Mach's gut Elodie". Ich erstarre. Meine Augen weiten sich und meine Atmung geht flacher vor Aufregung. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie er mich angesehen hat. Sein Blick war von genau der gleichen Verachtung geprägt gewesen, mit der er mich heute im Physikunterricht bedacht hatte. Es war das Erste Mal gewesen, dass er mich so angesehen hatte, also muss der Kernpunkt in diesem Gespräch liegen. Ich denke noch einmal gründlich drüber nach, analysiere jeden Satz bis auf die letzte Silbe. Und dann weiß ich es. Ich weiß was ich falsch gemacht, oder besser falsch gesagt habe. Ich setzte mich so ruckartig auf, dass mir schwindelig wird und halte mir für einen Moment den Kopf, bis er sich wieder beruhigt hat. Dann springe ich von meinem Bett, renne aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter, an meiner Mutter, die in der Küche steht vorbei. Ich vergeude nur wenige Sekunden um mir Schuhe anzuziehen, die Jacke lasse ich aus, obwohl es Draußen schüttet. „Elle? Elle Schätzchen ist alles okay?", ruft Mama aus der Küche, doch ich kann ihr nicht antworten, denn die Tür schlägt schon mit einem lauten Knall hinter mir zu. Und dann renne ich. Ich renne so schnell ich kann, husche um Ecken, folge den Straßenschildern, nehme nichts um mich herum mehr war, nicht den prasselnden Regen, der meine Kleider durchnässt, nicht die flackernden Autoscheinwerfer oder die fluchenden Menschen die ich umrenne. Wie durch ein Wunder werde ich nicht überfahren. Doch daran denke ich nicht. Für mich zählt nur eins und zwar, dass ich sofort dahin komme, wo ich hingehöre. Zu Carl.


Different worlds- ShamelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt