Die Bombe

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Ich stürze zur Tür, meine Hände zittern. Ich muss sofort zu Carl und ihm mitteilen, was ich gerade erfahren habe, der Arme wird da draußen vermutlich verrückt. Ich greife nach der Klinke, öffne und trete hinaus. Zuerst kann ich ihn in der Menge von Schülern nicht ausmachen. Mit gerecktem Hals, versuche ich den Mopp zu überblicken. Weshalb hat er nicht aufgepasst? Er wollte doch hier vor der Tür warten. Bevor ich mir mehr Gedanken darübermachen kann, erkenne ich sein dunkles Haar zwischen den anderen Köpfen. Ich hatte ihn nicht gesehen, weil vor ihm ein Mädchen mit wilden, dunklen Locken steht und mir die Sicht raubt. Carl macht einen Schritt zur Seite, sie kopiert seine Bewegung wie ein Spiegel. Jetzt stehen sie beide seitlich zu mir und ich sehe, wer die Aufmerksamkeit meines Freundes beansprucht. Jeder Millimeter meines Körpers scheint zu Stein zu werden, als ich die Person erkenne. Da steht sie. Dominique, mit Leib und Seele. Ich hatte sie schon ganz vergessen. Ich hatte sogar ausgeblendet, dass sie existiert. Und jetzt steht sie da. Mein Entsetzten steigt weiter an als ich höre, was sie da sagt. "Jetzt bin ich aber beleidigt. Schließlich bin ich deine Freundin". Doch noch viel mehr als ihre Worte, lässt mir der darauffolgende Kuss das Blut in den Adern gefrieren. Ich glaube, meine Augen fallen mir gleich aus dem Kopf. Was soll das? Hat er die ganze Zeit nur mit mir gespielt? War das alles am Ende doch nur Show, wie ich von Anfang an befürchtet hatte? Habe ich mich täuschen lassen? Wut kocht in mir hoch und ich stürme mit energischen Schritten und wehenden Haaren auf die Beiden zu. Rücksichtslos und ruppig schubse ich dabei ein paar Schüler beiseite, den Schwangerschaftstest immer noch fest in der Hand und mein Blick könnte in diesem Moment wohl töten. Meine Stimme klingt etwas zu hoch als ich ihn zur Rede stelle, noch immer im Gehen. "Was. Zur. Hölle? Carl Francis Gallagher! Erkläre mir warum Dominique dich küssen darf und warum sie denkt sie sei deine Freundin!" Sie lösen sich voneinander. Auf Dominiques Gesicht breitet sich so etwas wie eine Mischung aus Verärgerung, Verwunderung und Einbildung breit. Carl sieht mich einfach nur schuldbewusst an. Und dieses Gesicht, dass mir eigentlich schon ohne Worte mitteilt, dass Carl Mist gebaut hat, lässt etwas in mir Zerbrechen. Ich kann es förmlich klirren hören, bilde mir ein, dass Glasscherben in ihrem Fall meine Haut aufschlitzen und Blut hinausströmt. Ich kann nur den Kopf schütteln. "Warum wohl? Ich bin seine Freundin, im Gegensatz zu dir du Freak. Als ob er jemals eine wie dich haben wollen würde, hast du dich mal angesehen?", höhnt da Dominiques Nerv tötende Stimme über meine Gedanken hinweg und holen mich in die Wirklichkeit zurück. Ich wende mich ihr zu, meine Augen glühen förmlich vor Hass und Abscheu. "Er hat nicht mit dir Schluss gemacht? Also, vor so etwa drei Wochen?" Sie schüttelt abfällig und verwirrt den Kopf. "Nein, warum sollte er auch? Was geht dich das eigentlich an?" Doch ich achte gar nicht mehr auf sie und widme nun Carl meine volle Aufmerksamkeit. Er sieht mich nicht an. Wie zur Salzsäule erstarrt blickt er zu Boden. Die Menge um uns herum ist inzwischen gewachsen, auch Sam und Debbs sind hinzugestoßen. Keiner wagt es auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben, ja nicht einmal zu blinzeln, wie es mir scheint. Sie beobachten uns mit geweiteten Augen, als hätte man ein kleines Kind in den Löwenkäfig geworfen. Ich bin der Löwe. Ich höre meine Tritte auf den blanken Fliesen von den Wänden wiederhallen, ich Schritt für Schritt auf in zugehe, langsam und bedrohlich und jederzeit bereit ihn zu zerfleischen. Er muss nur eine falsche Bewegung machen, sofort wäre er tot. Die Luft scheint elektrisch aufgeladen, beinahe kann man die Spannungen schon greifen, die an diesem Ort herrschen. Die Stille drückt auf meine Ohren und hört sich auf einmal sehr laut an. Schließlich trennen uns nur noch wenige Zentimeter, ich spüre seinen zitterigen Atem auf meiner Wange. "Du Mistkerl. Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht, ist es nicht so? Du hast mir vorgespielt, es würde dir wirklich etwas an mir liegen und warst die ganze Zeit mit Dominique zusammen?", sage ich, so, dass es auch jeder hören kann. Mir ist bewusst, dass gerade duzende Kameras auf mich gerichtet sind und weiß, dass es auf Social Media landen wird. Ja, ich hoffe sogar, dass es so sein wird, dass ich öffentlich sagen kann, was ich denke. Jeder soll wissen was Carl getan hat, das ist nur fair. "Elodie, das ist nicht wahr. Mir liegt sogar sehr viel an dir. Ich würde alles für dich tun, dass weißt du". Carls Stimme ähnelt eher einem Flehen. "Ach ja? Weiß ich das? Ich kann mich nämlich noch gut daran erinnern, dass ich vor Wochen um eine Einzige Sache gebeten habe, wenn du mit mir zusammen sein willst. Nämlich das du mit ihr Schluss machst. Ich will keine billige Affäre sein Carl. Das habe ich dir gesagt. Du hast mir weisgemacht, dass du seist meinem Wunsch nachgegangen". Kälter als meine Stimme könnte in diesem Moment keine Eiszeit sein, so viel steht fest. Carl zittert sogar, ob wegen meines kühlen Blickes oder weil er Angst hat, öffentlich bloß gestellt zu werden, weiß ich nicht. "Wie bitte?", kreischt Dominique. Erneut ignoriere ich sie und lasse meinen Blick auf Carl ruhen. "Sag mir nur eins: Liege ich richtig in der Annahme, dass du nicht mit Dominique Schluss gemacht hast?" Er sieht zu Boden und schüttelt verzweifelt den Kopf, doch mir ist klar, dass er lügt. "Sieh mich an! Sieh mir in die Augen und sag, dass das nicht stimmt!", schreie ich und er zuckt zusammen. Dann hebt er den Kopf. Er sieht unendlich traurig aus als er mir tief und die Augen blickt und dann ganz leise sagt: "Es tut mir so leid". Ich schließe die Augen und nicke langsam. "Ok gut. Toll gemacht, ganz reizend. Irgendeine Erklärung?" Ich öffne meine Lider wieder. Carl beißt auf seiner Lippe herum und schüttelt den Kopf. Schön, er will es mir nicht sagen. Na gut. Sein Pech. "Noch irgendetwas das du mir verheimlicht hast?" Eigentlich war die Frage nicht ernst gemeint. Deshalb bin ich umso geschockter, als Carl nickt und mich schuldbewusst ansieht. Ich atme tief ein und aus. Dann traue ich mich zu fragen. "Und was?" Will ich es wirklich wissen? Doch es ist zu spät um sich jetzt noch um zu entscheiden denn er antwortet bereits so schnell, dass ich es beinahe nicht gehört hätte. "Ich war total bekifft und besoffen und habe mit meinen Freunden gewettet das ich dich in zwei Wochen flachlegen kann".

Kawumm. Das war sie. Die Bombe, die die ganze Zeit im Verborgenen getickt hat, nur um jetzt hochzugehen. Die Schule könnte abbrennen, die Zombieapokalypse um uns herum ausbrechen und wir würden es nicht merken. Aber nichts von dem passiert. Wir werden beobachtet von einer klatschsüchtigen Menge an Schülern. Wir starren uns an, er fürchtet sich vor meiner Reaktion und ich kann noch gar nicht fassen, was er mir da gerade eröffnet hat. Ich war noch nie so entsetzt, wütend, enttäuscht und traurig zu gleich. Ich hatte auf ihn vertraut. Ich hatte ihm die Chance gegeben, sich für mich richtig zu verhalten. Wenn ich ihm auch nur annähernd so wichtig bin, wie er mir immer weismachen wollte, dann hätte er all diese dämlichen Aktionen niemals begangen. Seine Vergangenheit ist von Drogen und Gefängnis geprägt, aber das war vor mir. Er kann es nicht mehr ändern. Und deshalb habe ich ihm vergeben. Aber dieses Mal werde ich das nicht. Ich fühle mich benutzt, dreckig und belogen, als wäre ich eine seiner Bitches, die ich nie sein wollte. Wie konnte ich nur so naiv und impulsiv handeln? Wie konnte ich nicht erkennen, was für ein falsches Spiel er mit mir getrieben hat, obwohl ich mehrfach gewarnt wurde? Wie konnte ich mich nur von ihm verführen lassen? Wie nur, wie nur, wie nur... Auch das kann ich nicht mehr rückgängig machen. Aber was ich kann, ist nicht zulassen, dass er mir noch einmal wehtut. "Tja. Gratuliere. Das hast du dann ja wohl geschafft. Ich hoffe, was auch immer der Einsatz war, er war es wehrt, mich dafür zu belügen, zu benutzten und jetzt zu verlieren! Das war's Carl. Such dir eine neue Bitch, eine neue Beschäftigung mit der du dich amüsieren und deine Zeit vertreiben kannst. Denn mit mir, wirst du nie wieder deine falschen, dreckigen Spielchen spielen können!" Bei den letzten Worten wird meine Stimme immer lauter und erregter und meine Augen haben begonnen, Funken zu sprühen. "Du hast mit ihr geschlafen?!", kreischt Dominique von hinten. Carl dreht sich zu ihr um und sagt mit entnervter Stimme. "Dom, sei doch einfach mal ruhig. Nur falls du es noch nicht gecheckt hast, du und ich, wir sind nicht mehr zusammen, klar?" Ihr bleibt die nächste höhnische Bemerkung in der Kehle stecken. Mit offenem Mund steht sie da, mit beinahe dümmlich verwirrter Miene. Dann begreift sie, presst die Lippen zusammen, dreht sich mit fliegenden Locken um und rauscht ab. Zum Glück. Carl dreht sich wieder zu mir. "Meintest... meintest du das ernst, gerade?" Ich verschränke die Arme vor der Brust und recke mein Kinn vor. Ich muss jetzt stark sein. Sein trauriger Blick hätte es beinahe so weit getrieben, dass ich seinem wortlosen Flehen nachgegeben hätte. Aber das darf ich nicht. Ich bin mir selbst wertvoll genug, dass ich mich nicht weiter von ihm benutzen lasse. Vermutlich ist dieses Gesicht sowieso nur gespielt. Wie alles von ihm es war. "Bitte, verzeih mir, Elodie... ich... will dich nicht verlieren", bettelt er erneut. "Das hättest du dir vorher überlegen müssen, Carl. Ich habe dir wieder und wieder eine Chance gegeben, obwohl das total unvernünftig von mir war und du hast mein Vertrauen missbraucht. Du kannst mich mal!" Ich drehe mich um und will gehen, doch dann halte ich noch einmal inne, drehe mich wieder um und schleudere Carl den Schwangerschaftstest entgegen, den er intuitiv auffängt. "Ach ja! Wir sind nicht schwanger. Jetzt freust du dich doch, oder? Sonst hättest du nachher Verantwortung für dieses Baby tragen müssen, oder, Gott bewahre, etwa für mich. Aber dafür wärst du eh viel zu ungeeignet nicht? Du wärst davon gelaufen, hättest dich vor mir und deinem Kind versteckt, um dir bloß nicht eingestehen zu müssen, dass du dich nicht aus allem rausprügeln kannst! Denn das ist es was du immer tust, Carl! Du rennst weg! Vor anderen, vor mir und vor dir selbst". Er schüttelt den Kopf und blickt auf den negativen Teststreifen. Dann sieht er wieder mich an. "Ich hätte dich nicht im Stich gelassen", sagt er dann, ganz leise, so dass ich beinahe schon denke, ich hätte es mir eingebildet. Ich beginne zu Schwanken. Soll ich ihm nicht vielleicht noch eine allerletzte Chance geben? Nein! Er muss lernen, dass er Konsequenzen tragen muss. Und ich muss genug Selbstachtung haben, um nicht wieder so tief zu sinken. Deshalb drehe ich mich um und stapfe mit harschen Schritten davon. Ich komme allerdings nur wenige Meter weit, dann Carl fast mein Handgelenk und versucht, mich an meinem Abgang zu hindern. "Elodie warte, es tut mir leid, lass es mich..." Klatsch! Mit voller Wucht schlage ich ihm ins Gesicht. Meine Handfläche brennt und ich hoffe, seine Wange, die sich bereits rot verfärbt, tut mindestens genauso weh. Ich schüttele mühelos seine Hand ab, mit der er sich darauf an die schmerzende Stelle fasst. Voller Verblüffung sieht er mir ins Gesicht, die Lippen leicht geöffnet, als könne er gar nicht glauben, wie viel Temperament in mir steckt. "Tu mir einen Gefallen und lass mich mit deinem Scheiß in Frieden. Wenn ich dir auch nur irgendwas bedeutet habe, wenn du es wirklich wieder gut machen willst, dann halt dich aus meinem Leben fern, Carl Gallagher!"

Different worlds- ShamelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt