Angst

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Ich sitze am Küchentisch der Gallaghers, vor mir ein halbvolles Glas Wasser. Mein Blick ist ins Leere gerichtet, meine Hände ringen, in meinem Kopf rattert es. Carl weicht nicht mehr von meiner Seite, seitdem wir Beide fast einen Nervenzusammenbruch hatten. Schließlich konnten wir uns gegenseitig damit beruhigen, dass wir uns im Arm gehalten haben. Er fragt mich die ganze Zeit, ob ich irgendwas brauche, oder schon etwas spüre in dem Bauch. Obwohl ich ihm erklärt habe, dass das wenige Stunden nach dem Sex unmöglich sei, er beobachtet meinen Bauch, als könnte er sich jederzeit aufblähen wie ein Luftballon, oder als ob ein Fußabdruck sich plötzlich in der Haut abzeichnen könnte. Er denkt ich würde es nicht bemerken, aber das tue ich und es macht mich nervös. Das Wichtigste ist, dass ich jetzt einen kühlen Kopf bewahre, sonst bekomme ich nur Panik und die bringt uns gerade nicht weiter. Ich versuche die Situation zu analysieren und beobachte währenddessen die verzerrten Bilder die ich durch das Wasserglas ausmachen kann. Tanzende Lichtpunkte brechen sich in den Molekülen und werden mehrfach zurückgeworfen wie von einem Diamanten. Sie haben eine hypnotisierende Wirkung auf mich und ich kann nicht aufhören sie anzustarren. Carl und ich hatten ungeschützten Sex und das war leichtsinnig, dumm und impulsiv. Ich hatte nicht meine Tage und war, beziehungsweise bin, fruchtbar. Also könnte ich, möglicherweise, schwanger sein. Soweit waren wir schon. Und wie geht es jetzt weiter? Fest steht, ich muss kein Kind empfangen haben. Die Wahrscheinlichkeit in den fruchtbaren Tagen schwanger zu werden, liegt zwischen 20 und 30 Prozent. Zwar sind das auf die ganze Menschheit verteilt doch erschreckend viele Frauen, aber es steht zumindest nicht fest. Es besteht Hoffnung. Gehe ich jetzt mal vom Schlimmsten aus und habe tatsächlich einen Braten in der Röhre, was dann? Behalten wir das Kind? Sollte ich abtreiben? Wird Carl das von mir erwarten? Was soll ich meinen Eltern sagen? Wird er mich verlassen, wenn ich das Kind behalte? Will ich es überhaupt behalten? Alles Fragen die ich gerne beantwortet hätte. Mit meinen Fingerkuppen tippe ich auf die schmutzige Holzplatte, während ich darüber nachdenke. Ein rhythmisches Geräusch entsteht, aber irgendwann hält Carl meine Hand fest, weil es ihn wahnsinnig macht. Ich bin so hibbelig. „Und was machen wir jetzt?", fragt er mich schließlich kleinlaut. Das schlechte Gewissen und die Furcht sprechen aus seiner Stimme. Ich höre auf mit meinen Blicken ein Loch in den Tisch brennen zu wollen und sehe ihn an. „Ich weiß es nicht", gestehe ich. „Ich war noch nie schwanger". Er nickt betrübt. „Willst du mit wem darüber reden?", fragt er dann. „Sam". Die Antwort ist heraus bevor ich darüber nachdenke, aber es fühlt sich wie selbstverständlich an. Natürlich erzähle ich es Sam. Er lächelt kurz und freudlos. „Ich meine jemanden, der uns da helfen kann. Fi, oder deine Eltern. Vielleicht auch einer deiner sehr verehrten Lehrer, keine Ahnung irgendwer". Ein Seufzen schlüpft aus meiner Kehle. „Ich weiß nicht, ob und wie und wann ich es meinen Eltern sagen soll. Mit einem Lehrer will ich nicht darüber reden, das ist peinlich". Carl macht ein verständnisvolles Gesicht. „Was ist mit Fiona? Ich wette sie könnte uns helfen". Ich lasse die Schultern sinken und knabbere auf meiner Unterlippe herum. „Ja aber... es steht ja auch noch gar nicht fest ob wir ein Kind kriegen müssen". Ich hebe das Glas und will einen Schluck trinken. „Ihr kriegt ein Baby?" Ich zucke zusammen und pruste das Wasser wieder auf die Tisch Platte. Während mein Körper von einem Hustenanfall geschüttelt wird und Carl mir vorsichtig, als wäre ich zerbrechlich, auf den Rücken klopft, drehe ich mich zu Debbie um, die im Türrahmen lehnt, die Augenbrauen hochgezogen. Ich hatte sie gar nicht kommen hören, sosehr war ich auf mich und unser Problem fokussiert gewesen. „Ihr seid schwanger?", wiederholt sie ihre Frage. „Ja... nein... ich... wir... also... hmpf". Frustriert lasse ich die Schultern sinken. Ich stammle nur Unsinn. Carl übernimmt jetzt das Reden, was vermutlich besser ist. Ich bin so durcheinander. „Wir hatten gestern ungeschützten Sex und Elodie ist fruchtbar. Jetzt fürchten wir, dass sie schwanger sein könnte". Ich zucke anhand dieser nackten Tatsachen zusammen. Er bringt es in gerade mal zwei Sätzen auf den Punkt. „Oh fuck". Debbie kommt zu uns herüber und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. „Warum hattet ihr ungeschützt?", fragt sie dann stirnrunzelnd. Carl stöhnt genervt und lehnt sich in seinen Stuhl zurück. „Weil ich ein dummer Hurensohn war und nicht aufgepasst habe, ok? Darum geht's nicht, man, sie hat n Braten in der Röhre!" Ich hebe die Hand und funkle ihn an. „Das ist nicht sicher. Nur zu 30 Prozent! Wir haben keinen Beweis" Ich will noch nicht die Hoffnung aufgeben. Er schnippt mit den Fingern und deutet auf mich, als hätte ich gerade die Lösung des Problems genannt. „Ja, das müssen wir machen, es testen. Komm wir kaufen jetzt so einen Pissstreifen, du kennst die doch, diese Tests". Ich schnaube und fahre ihn an: „Ja die kenne ich, was denkst denn du?" Ich bin so aufgelöst wie lange nicht, meine Hormone spielen verrückt. „Das würde nichts bringen Carl, die Angaben sind frühestens nach zwei Wochen mit Gewähr", wirft Debbie ein und ich nicke bestätigend. Carl lässt nur verzweifelt den Kopf sinken, auch seine Gefühlswelt scheint gerade Achterbahn zu fahren. Ich lege ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Gut, dann warten wir zwei Wochen; Debbie, kaufst du uns so ein Ding? Ich weiß gar nicht wo ich die krieg", murmelt er. Sie nickt mitfühlend. Mit meinem Stuhl rücke ich näher zu Carl und lege erschöpft meinen Kopf auf seine Schulter. „Was sag ich meinen Eltern?" Meine Stimme klingt leise und brüchig. Ich bin so müde, es waren einfach zu viele Informationen auf einmal. Und ich habe eine Heidenangst vor dem Ergebnis, dass ich in zwei Wochen in den Händen halten werde. „Am besten gar nichts", meint Debbie, „bevor wir Genaueres wissen, sollte das hier besser ein Geheimnis bleiben". Ich nicke nur. Carl gibt mir einen sanften Kuss auf den Scheitel und ich kuschele mich noch enger in seine Halsbeuge.

Diesen Abend liegen wir im seinem Bett, dieses Mal jedoch komplett angezogen. Keiner von uns hatte Lust auf Sex, nachdem was passiert ist. Carl hat den Arm um meine Schultern gelegt und schläft schon, er schnarcht leise und sein Oberkörper hebt und senkt sich in einem beruhigenden Rhythmus. Ich schmiege mich trostsuchend an ihn. Ich kann einfach noch nicht schlafen. Zuviel geht mir durch den Kopf, es ist alles so verwirrend und aufwühlend. Ich habe Angst um meine Zukunft, unsere Beziehung, um meine Eltern. Und um das Baby. Wie soll ich es finanzieren oder versorgen? Meine Eltern arbeiten so hart und doch halten wir uns gerade so über Wasser. Und wer soll sich um mein Kind kümmern, wenn ich in der Schule bin? Wird Carl mir helfen? Wird er bei mir bleiben, oder abhauen? Am allermeisten fürchte ich mich davor, alleine dazu stehen, mit einem schreienden Baby im Arm und ohne Geld. Ich weiß das Carl mich liebt, aber ich weiß auch, dass er selten bereit ist, Verantwortung zu tragen. Ob er in diesem jungen  Alter wirklich schon eine Familie haben kann? Oder wird er weglaufen, vor mir, seinem Kind und der Aufgabe, der er sich nicht gewachsen fühlt? Soll ich das Baby überhaupt behalten? Wenn ich denn eins habe, das wissen wir ja nicht. Ob es ein Mädchen oder Junge wäre? Ich hoffe ja ein Mädchen. Wie soll ich sie nennen? Es gibt viele schöne Namen: Elena, Liliana, Fay, Eleanore... Ich will etwas Besonders. So schön ich die Namen Sophia, Laura oder Mia finde, ich möchte etwas Einzigartiges. Etwas Seltenes. Vielleicht ein Name, der eine Bedeutung trägt? Luna, der Mond oder Stella, der Stern das finde ich schön, so mystisch. Oder Wiktoria, die Siegerin, der Name würde die Kleine stark machen, dass weiß ich. Linda, die Hübsche, dass gefällt mir. Mit mir und Carl als Eltern wäre sie sicher bildschön, ohne eingebildet zu klingen. Oder solche, die nur jeder dreitausendste Mensch trägt, wo man garnicht wusste das sie existieren. Mein Name ist auch selten und ich trage ihn mit Stolz. Das sollte jeder mit einem besonderen Namen tun, und sich nicht dafür schämen. Es macht einen nicht zum Freak, sondern zu etwas Besonderem. Anouk, Lou, Filiz, Norina, Milou... solche außergewöhnlichen Namen gibt es. Ich kann mich gar nicht entscheiden. Ich erschrecke. Ich denke schon, als stände es fest, dass ich ein Baby bekomme. Wie ferngesteuert fährt meine Hand zu meinem, Gott sei Dank, noch flachem Bauch. Kann es wirklich sein? Schlummert darin ein winziger Fötus, der bald zu einem Menschen heranwachsen könnte, einem kleinen Stück Leben? Ich streichele über meine Haut und seufze. Ich weiß es nicht. Und Gewissheit werde ich erst in zwei Wochen haben; mir ist klar, dass diese Vierzehn Tage schrecklich nervenaufreibend für mich, Carl, Debbie und Sam, der ich eben am Telefon alles erzählt habe, werden könnten...


Different worlds- ShamelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt