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LUELLA

Die Bettseite neben mir ist leer als ich erwache, aber die Tür öffnet sich gerade und Ara schneit zurück ins Zimmer. Mit einem Lächeln auf den Lippen hüpft sie neben mir auf die Laken und lehnt sich in die vielen Kissen. Sie trägt nicht mehr dasselbe wie gestern, sondern eine kurze Jogginghose und ein lockeres T-Shirt, das einen V-förmigen Ausschnitt hat. Sie muss duschen gewesen sein und sich umgezogen haben, während ich noch geschlafen habe. »Ausgeschlafen?«, fragt sie mich und überschlägt ihre Beine. Müde wälze ich mich auf den Rücken und starre an die Zimmerdecke. »Als wäre ich im Himmel«, bestätige ich und bringe sie zum kichern. »Schön. Ich habe unten mal die Lage abgecheckt und es hat verdächtig nach Frühstück gerochen«, lässt sie mich wissen und wackelt mit den Augenbrauen. Mein Magen ist so leer wie er nur sein kann, aber Hunger habe ich in diesem Augenblick wenig. Stumm raffe ich mich auf und schwinge die Beine über die Bettkante. »Luella?«, hakt Ara hinter mir nach, »was hast du?«
»Ich muss das von gestern erstmal sacken lassen, verstehst du?«, erkläre ich und hoffe, das sie es tut. Das alles überwältigt mich so.
»Klar... also ich suche dir mal was von mir zum anziehen raus und warte dann hier, bis du fertig bist«, schlägt meine beste Freundin kleinlaut vor und erhebt sich hörbar. Die Matratze geht wieder nach oben und die Tür öffnet sich - ich bin allein. Seufzend erhebe ich mich und laufe ins angrenzende Badezimmer. Diese Villa ist wirklich das schönste, was ich je gesehen habe. Ich dusche, ziehe mich um und verlasse anschließend mit Ara das Zimmer gemeinsam. Sie kennt sich hier doch am besten aus und führt uns auf geraden Wege nach unten ins Erdgeschoss. Auf unserem Weg fallen mir die vielen Kunstwerke das erste mal an den Wänden auf. Sie werden ausgeleuchtet und strahlen in den buntesten Farben, so als hätte jemand Farbtöpfe gegen die Leinwand geklatscht. Und doch haben sie etwas besonderes. Jedes für sich, keins ist so wie das andere.

Tatsächlich riecht es nach Kaffee und etwas süßem, das ich nicht identifizieren kann. Ara führt mich in ein Wohnzimmer und von dort aus durch eine große gläserne Schiebetür auf warme Terassenplatten, die sich in der Sonne unter meinen nackten Füßen erwärmen. »Ladies«, begrüßt Ara die beiden Männer, die am Tisch sitzen und sich gegenseitig Blicke zuwerfen, als sie uns sehen. Mein Herz klopft ängstlich auf als ich Neo anschaue, der seine Brauen zusammengezogen hat und aus einer Tasse Kaffee trinkt. Ara deutet mir, mich auf den Stuhl rechts neben Toro zu setzen, während sie neben ihrem Bruder platznimmt und ihm einen sachten Kuss auf die Wange drückt. Brummend wischt sich Neo über die Haut und wirft ihr einen bösen Blick zu. Es scheint eine Menge ungesagtes zwischen ihnen zu sein, das spüre ich quer über den Tisch.
Ich fühle mich unwohl.
Neo wirft mir Todesblicke quer über das Essen zu und ich bin mir sicher, das er mich am liebsten in seinem Keller sehen würde. Er denkt, ich hätte ihn verraten.
Ara hält mir eine Mango unter die Nase und lächelt, während eine Frau im schwarz-weißen Kostüm unsere Tassen befüllt. Können sie das nicht selbst?
»Hier, frisch aus dem Garten«, strahlt Ara und ich nehme die Frucht skeptisch entgegen. Soll ich die etwa essen? Ara merkt wie zwiegespalten ich bin und nimmt das Stück Obst kichernd zurück. Sie schneidet sie galant auf, ritzt ein Karomuster hinein und stülpt die Organe-gelbe Frucht mit der Schale nach innen, sodass das Fruchtfleisch wie kleine Quadrate absteht. »Iss nur«, ermutigt sie mich und ich scheide mir die ersten Stückchen Mango ab. Die Frucht schmeckt süß und saftig, wie warme Sonne und das Gefühl von Sommer mit einer Brise Honig. Ich mag es, es schmeckt gut. Kauend beobachte ich wie Ara sich an den Brötchen, dem Obst und der Marmelade bedient. Für sie scheint das normal zu sein aber ich habe jahrelang nur spärliches Essen bekommen. Es fühlt sich falsch an, all dieses Essen vor mir liegen zu haben. »Nimm dir alles was du willst«, fordert Ara mich auf aber ich zögere. Neo bemerkt das und mustert mich akribisch, sagt aber nichts. Toro schiebt mir diskret einen Korb mit süßen Brötchen zu, aus dem ich mir eins nehme und es stumm esse. Hinter den Geschwistern, unterhalb der Plantagen, zeichnet sich die Stadt ab. Ich kann mich an den Abend erinnern an dem ich auf dem feuchten Gras stand und Neo vor mir rumspazierte, während er mich fragte, ob ich wüsste, wie lukrativ das Drogengeschäft sei. Ich erinnere mich daran, wie Toro mich zwischen den Rasenprinklern bei meiner Flucht gehindert hat und mich zu Boden schmiss. Er rang mich zwar nur mit dem Arm zu Boden, aber meine Rippen schmerzen heute noch ein wenig von der Wucht.
»Verlässt du uns nachher wieder?«, erhebt Neo seine Stimme und höhlt eine Avocado geschickt mit einem Löffel aus. Ara schnaubt höhnisch und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Hättest du wohl gern, Die-«
»Neo«, unterbricht er sie knurrend und meine beste Freundin verdreht ihre Augen. »Jaja, jedenfalls gehe ich erst, wenn Luella auch geht. Ich lasse sie doch nicht allein in diesem Irrenhaus«, sagt sie und ich bin ihr mehr als dankbar dafür. »Luella wird hierbleiben«, spricht Neo mit fester Stimme und schmiert die Avocado auf ein Brot, das er mit Salz und Pfeffer berieselt. »Was?«, nuschle ich großen Augen und auch Ara schaut ihren Bruder an, als wäre er geisteskrank. Vielleicht ist er das auch ein bisschen. »Das kannst du nicht-«
Neos Faust schnellt auf den Tisch und bringt das Besteck zum klappern. Seine Augen sind auf Ara gerichtet, so giftig und böse wie die einer Schlange. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in tiefen, schnellen Zügen und die Furche auf seiner Stirn wird mit jedem Atemzug tiefer. »Das kann ich wohl. Erstmal wird Luella mir erzählen wie es genau dazugekommen ist, das sie total drauf auf meinem Stoff in die Bar getaumelt kam und dann, bleibt sie bis die Sache geklärt ist, um sicherzugehen, das ihre kleine Geschichte nicht geflunkert war.«
»Ich lüge nicht«, verteidige ich mich und Neo beißt schnaubend in sein Frühstück. »Das haben einige Menschen behauptet.«
»Du kannst sie nicht-«
»Halt die Klappe Arabella, sonst lasse ich dich von Toro vom Grundstück eskortieren.«
Ara hebt ihr Messer und blickt den muskulösen Mann neben mir warnend an. »Wag es dir ja nicht«, fährt sie ihn an. »Er hört nicht auf dich«, wendet ihr Bruder kalt ein. Die Stimmung am Tisch ist aufgeheizt und geladen. Von Sekunde zu Sekunde fühle ich mich noch unwohler. Ich esse still mein Frühstück während die beiden sich in den Haaren haben. Nach zehn weiteren Minuten erhebt sich Neo und verlässt die Runde stumm. Auch Ara verschwindet aber versichert mir, das sie bald wieder zurück ist. Nun sitze ich allein mit Toro da, der schweigt wie ein Stein. Auch er erhebt sich aus seinem Stuhl, aber schlägt einen anderen Weg ein. Er läuft über die Wiese und lässt sich auf einem der großen Steine, die die Terasse an den Ecken einrahmen nieder. Als ich das Feuerzeug und die Zigarette entdecke die er zückt, folge ich ihm.

»Hast du auch eine für mich?«, frage ich den muskulösen Viper und sinke neben ihm auf den Stein. Er zieht aus seiner Hosentasche eine zerknirschte Schachtel Zigaretten und reicht sie mir. Dankend nehme ich mir eine und lasse sie mir von ihm anzünden. Als das erste bisschen Nikotin meine Lungen füllt sacken meine Schultern ab. Toro spielt nachdenklich mit seinem Feuerzeug, das er in seinen Fingern immer wieder an und aus macht. Er steckt sich die Schachtel zurück in die Tasche und raucht schweigend. Diesmal ist die Ruhe ganz angenehm. Hier oben weht ein leichter Wind, was mir bei der Hitze ganz gelegen kommt. Ich ziehe immer wieder an den glühenden Stängel zwischen meinen Fingern und starre hinunter auf die Stadt, die bereits in der Hitze wie eine Fatamorgana wirkt. Die warme Luft flimmert in der Ferne, es muss unerträglich warm dort unten sein.
»Weiß Hernández, das ich...«, beginne ich die Stille durchbrechend und schaue den dunkelhaarigen von der Seite an. Im Sonnenschein glänzen seine Haare fast schon ein bisschen braun, wobei die bei Nacht schwarz werden. Toro schüttelt den Kopf und ich streiche mir die Haare hinters Ohr. Verdammt. Er wird denken, das ich geflohen bin und seine Heinzelmännchen nach mir schicken, die die ganze Stadt durchkämmen werden, bis sie mich gefunden haben. Ich habe es verbockt. Er wird mich nie wieder ins Bordell lassen. Nicht das ich dahin zurückwollte, aber dort ist mein Zuhause. Ich kenne nichts anderes. Mein letztes hab und Gut liegt dort in dem kleinen schäbigen Zimmer und wartet darauf, von mir abgeholt zu werden. Zudem bin ich auf den Job angewiesen. Ich kann nicht obdachlos in Bogotá sein. Das kann ich einfach nicht...

»Wir werden ihm ein paar Fährten legen, die ins nichts führen«, holt mich Toro aus meinen Gedanken. Er mustert mein Gesicht von der Seite. »Da ist er für ein paar Tage abgelenkt.«
»Danke«, seufze ich und schenke ihm ein winziges Lächeln. Er erwidert es mit einem Nicken. Der breitgebaute Latino drückt den Stummel seiner Kippe zwischen uns auf dem Stein aus und erhebt sich. Gerade als er gehen will, erklingen Schritte hinter uns. Ich schaue über die Schulter, denke das es Ara ist, jedoch steht Neo dort und mustert Toro und mich. »Ich wollte gerade gehen«, murmelt dieser und schlängelt sich an seinem Freund vorbei ins Innere des Hauses. Es dauert keine Minute da höre ich die ins Schloss fallende Haustür und weiß, das wir nun allein sind. Ara wollte kurz ein paar Sachen aus ihrer Wohnung holen, also dauert das wohl noch mindestens dreißig Minuten.
»Steh auf und komm mit in mein Büro. Wir müssen reden«, fordert Neo mich auf und ich erhebe mich mit klopfendem Herzen und einem mulmigen Gefühl im Bauch. Meine Augen schweifen ein letztes Mal hinunter zu der Obstplantage, durch dessen Reihen Arbeiter mit vollen Körben laufen. Ich drücke die Zigarette wie Toro zuvor auf dem Stein aus und folge Neo ins Innere der Villa. Mein Herz droht mir fast aus der Brust zu springen, auf dem Weg in den ersten Stock. Ich fürchte mich vor dem Gespräch mit ihm, weil ich ihn nicht einschätzen kann. Ich weiß nicht was sich hinter seiner Maske verbirgt und was er vor mir geheimhalten will. Der Kopf der Schlangen ist der gefährlichste von allen, da bin ich mir sicher.

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