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NEO

Ich dachte nicht, das ich je so nervös wie jetzt sein würde. In diesem Augenblick rast mein Herz schneller als je zuvor. Timeo hat mir vor einer halben Stunde getextet, das sie ihn haben. Das mein Vater wirklich frei ist. Aus diversen Gründen konnte ich ihn nicht selbst abholen, aber das wird er mir verzeihen. In meinen Händen kribbelt es. Ich wische sie mir immer wieder an meiner Jeans ab, weil sie schwitzig sind. Fuck, ich war noch nie so nervös. Das Blut rauscht mir in den Ohren und ich wünsche mir, dass der Moment endlich kommt, an dem mein Vater durch die Tür marschiert. Ich habe ihn schon viel zu lang nicht zu Gesicht bekommen, so wie meine Schwester. Arabella hat das ganze nicht gut verkraftet und war eine lange Zeit sauer auf mich, was ich ihr nicht verübeln kann. Ich wüsste nicht, was ich in ihrer Situation gemacht hätte. Sie ist schon immer eigensinnig und stur gewesen. Das liegt in der Familie. Dennoch nimmt sie sich die meisten Dinge sehr zu Herzen, besonders was die Familie angeht. Ich weiß, das sie schon viele Tränen wegen mir vergossen hat. Das sollte sie nicht, aber ich kann es nicht ungeschehen machen. Ich habe diesen Mann getötet und mein Vater wurde dafür bestraft, nur weil er auf der schwarzen Liste des Bürgermeisters stand, der alles aus dem Weg räumen will, was ihm in die Quere kommt. Er realisiert nicht, dass er der Stadt damit am meisten schadet. Die Menschen hier und selbst die Regierung profitiert von unserem Handel mit Drogen. Die Arbeitslosen würden sie sonst überrennen. Wir geben den meisten Arbeit. So gesehen, schaden wir der Stadt nicht. Zumindest nicht mehr als er selbst.

Je mehr Zeit verstreicht desto nervöser werde ich. Mit drei Kaffee intus trommle ich meine Fingerkuppen auf die Platte des Küchentischs und starre an die Matte Front der Hochschränke. Gott, Timeo müsste gleich hier sein und mit ihm mein Vater. Wie könnte ich je das Gefühl in mir unterdrücken, dass seine Rückkehr in mir auslöst? Ich mag noch so kalt und herrisch sein, wenn es um meine Familie geht, würde ich sogar heulen. Nicht, das es in letzter Zeit vorgekommen ist, aber sollte Ara je etwas zustoßen, würden mich vermutlich die Tränen überkommen.
»Guten Morgen«, erklingt die zarte Stimme von Arabella in der Tür. Sie betritt gefolgt von Luella in die Küche und stürmt auf mich zu. Ehe ich mich versehe, fällt mir meine kleine Schwester um den Hals und drückt einen flüchtigen Kuss auf meine Wange. »Gott, lass das«, brumme ich und schiebe sie sanft von mir, doch sie schlingt ihre Arme nur noch fester um meinen Hals. Ihre wilden Locken fallen mir ins Gesicht und legen sich wie ein Vorhang vor meine Augen. Es wird Nacht. »Ara«, knurre ich gefährlich leise. Langsam drückt sie mir die Luft ab. Gott, wieso umarmt sie mich so fest?
»Du hast es wirklich geschafft, dass sie Papá freilassen. Luella hat mir alles erzählt. Ich hasse, was sie tun musste, aber ich bin froh, das er bald zurück ist«, nuschelt sie gegen mein Ohr und ich lasse die Schultern sinken. Sanft tätschle ich den Rücken meiner Schwester und schiebe mir ihre Mähne aus dem Gesicht. Über die Schulter schaue ich Luella an, die im Türrahmen lehnt und ein schmales Lächeln auf den Lippen hat. Sie wirkt noch müde, aber ihre Augen glänzen glücklich. Ist es wegen Ara, oder dem, das wir gestern getan haben? Ich muss dringend mit ihr sprechen. Das weiß sie sicher. Wir müssen dieses Gespräch führen, da es unumgänglich ist. Doch nicht jetzt. Später wird noch genug Zeit dafür sein, hoffe ich.

Die große Haustür knarzt und Stimmen erklingen im Flur. Meine Schwester schreckt sofort auf und eilt aus der Küche hinaus an Luella vorbei aus meinem Sichtfeld. »Papá!«, kreischt sie wie ein kleines Kind, das nach einem langen Tag seinen von der Arbeit kommenden Vater begrüßt. Vermutlich sollte ich aufstehen und ihr folgen. Ja, das sollte ich ganz sicher, aber mein Körper ist wie eine zweite Haut an diesem Stuhl angewachsen. Mein Herz poltert und die Kehle wird staubtrocken. Fuck, was passiert nur mit mir? Ist das etwa Angst? Glück? Schmerz? Ich kann es nicht einordnen. Herzklopfend schließe ich meine Hände zu Fäusten und starre auf sie, als wären sie Fremdkörper. Neo, beweg deinen Arsch.
Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ich fühle Reue. Weil er so lange in diesem Gefängnis vergammeln musste, bevor ich es geschafft habe zu befreien. Weil ich erst jemanden wie Luella gebraucht habe, um es zu vollenden. Ich bin mindestens so erbärmlich wie Bürgermeister Morelio. Gott, ich hätte schon viel früher zum Endschlag gegen ihn ausholen müssen. Aber das hätte auch bedeutet, das ich Luella nicht kennengelernt hätte. »Alles okay? Willst du nicht zu deinem Vater gehen?«, holt sie mich aus den Tiefen meiner Gedanken. Mein Kopf schnippt nach oben und ich starre sie an wie ein verwirrtes Tier. »Was?«, stoße ich hervor. Es kostet mich eine Minute, bevor ich mich gefangen habe. Luella tritt näher an den Tisch und mustert mich auffällig. »Nun ja, freust du dich nicht?«
»Doch ich... ich hab mich nur mit meinen Gedanken aufgehalten«, rede ich mich raus und erhebe mich endlich. Der Stuhl scharrt auf dem Boden zurück und gibt ein Geräusch von sich. Ich leere die Kaffeetasse mit einem Schluck, und verlasse den Raum, ohne der Kolumbianerin noch einen Blick zu schenken. Wie ein ferngesteuerter Roboter betrete ich den Flur und sehe den älteren Mann inmitten der Halle. Arabella umarmt ihn fest und weinend, während er eine Hand an ihren Hinterkopf und die andere an ihren Rücken gelegt hat. Seine Finger streifen ihre Locken und ich bin mir sicher, eine Träne auf seiner gealterten Haut zu sehen, die in ihren Haaren versiegt.

»Ich hab dich so vermisst«, murmelt er ihr leise zu. Timeo, der an der Tür steht, scheint es nicht gehört zu haben. »Und ich dich erst, Papá. Diego hat sein Versprechen eingelöst und dich da rausgeholt«, gibt sie zurück und die Augen meines Vaters öffnen sich endlich. Sie treffen die meine und die Welt um mich verblasst einen Augenblick. Er ist in den letzten Monaten um Jahre gealtert, dünner und fahl geworden. Seine Iriden haben ihren Glanz verloren und doch funkeln sie mir so hell entgegen, wie sie schon lange nicht gewesen sein können.
»Diego«, sagt er und Ara lässt von ihm ab. Sie tritt sich über die Augen reibend einen Schritt zurück und mein Vater geht einen auf mich zu. Ohne ein Wort zu verlieren zieht er mich in seine Arme und klopft mir anerkennend auf den Rücken, während ich meine Arme so fest um ihn schlinge wie meine Kraft es mir erlaubt. All die Monate habe ich mir vorgestellt, wie es wäre ihn hier zu haben, mit ihm zu sprechen und ihn zu umarmen. Die Reue hat mich nachts wachgehalten wenn mir bewusst wurde, in welchem Drecksloch er sich zu unrecht befand. Nun ist er hier und ich bekomme kein Wort raus.
Die Umarmung tut gut. Verdammt gut. Das was gestern geschehen ist, ist endlich real für mich geworden. Es ist kein Traum gewesen, mein Vater ist wirklich hier. Lebendig.

»Ich bin so froh, dass du wieder zurück bist«, murmle ich gegen sein Shirt und genehmige mir einen Moment der Schwäche. Mein Vater tätschelt meinen Rücken und schiebt mich anschließend von sich. Seine Hände auf meinen Schultern, er schaut mich an. Man kann nicht leugnen, was das Gefängnis mit ihm gemacht hat. Die kleine Narbe über seiner rechten Augenbraue ist nur ein Beweis.
»Wie ich sehe, hast du alles im Griff gehabt, während ich weg war«, merkt er an.
»Habe ich. Es ist alles vorbereitet. Du willst sicher erstmal deine Ruhe haben«, sage ich und schaue über die Schulter zu meiner Schwester. »Zeigst du ihm sein Zimmer?«, bitte ich sie. Juan stößt ein kehliges Lachen aus. »Ich war ein Jahr weg und habe keinen Alzheimer, Diego. Ich finde mein Zimmer selbst«, lehnt er mir auf die Schulter klopfend ab. Nun gut, wenn er will. »Ich begleite dich trotzdem«, wirft Ara ein und drängelt sich zwischen uns. Sie klammert ihre Hände um seinen Arm und die beiden laufen los.
»Nachher müssen wir uns unterhalten, Papá«, erinnere ich ihn. Er weiß selbst, dass er über einige Dinge informiert werden muss. Jetzt, da er wieder da ist, wird er zurück auf den Thron der Vipers befördert. Ich war lediglich eine Ablöse für ihn. Zugegeben, werde ich das nicht vermissen. Ich habe mehr Freiheiten. Mehr Zeit, über das Geschehene nachzudenken. Mehr Zeit, um über das mit Luella nachzudenken.
Ich zücke die schwarze Pistole aus meinem Hosenbund und gehe sicher, das sie voll geladen ist. Mit einem Handgriff sitzt das Magazin an seinem Platz und die Pistole wieder an meinem Gürtel. Ich spüre Luellas Blick auf mir, als ich zur Haustür laufe. Vermutlich fragt sie sich, was ich vorhabe. Sie wird es früh genug erfahren. Schon eher, als sie denken mag. »Toro?«, rufe ich in den Vorgarten und halte auf der Türschwelle inne. »Ja?« Er kommt hinter einem der Jeeps hervor und pustet rauchend das Nikotin aus seinen Lungen. »Aufsitzen, wir haben jetzt ein kleines Rendezvous.«

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