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LUELLA

»Hier.«
Neo drückt mir eine graue Plastiktüte in die Hand, als er zur Haustür hineinschneit. Er war eine knappe halbe Stunde weg und ich bin froh, dass er nicht vergessen hat in die Apotheke zu fahren.
»Ich wusste nicht was-«
»Schon Gut, danke«, lächle ich ihnen knapp zu und spähe in die Tüte. Ich bin ihm wirklich dankbar. Auch dafür, das er kein Arsch zu mir war heute Morgen. Ich weiß das er dass von gestern auf eine Weise bereut, auf die andere nicht. Sein Verstand hat ausgesetzt. Gerade ihm als Anführer sollte das nicht passieren. Mich hat es selbst überrascht. Ich werde nicht leugnen, das ich es gut fand. Es war der erste Sex, an dem ich etwas anderes empfunden habe, außer Verachtung oder den Drang, es hinter mich zu bringen. Ich habe kein Geld dafür bekommen, weil er nicht mit mir geschlafen hat, weil ich eine Prostituiere bin, sondern weil ich in dem Moment Luella war. Nur ich selbst, niemand sonst.
»Wär das alles?«, hakt der Boss der Vipers nach. Nachdenklich blicke ich hinunter auf den Beutel. »Wann sagt du mir endlich, wieso ich hier bin?«, möchte ich wissen. Hinter Neo springt die Haustür auf und ein weiterer Mann kommt in mein Sichtfeld. Ist das dieser Timeo, von dem sie vorhin gesprochen haben? Er hat braune Haare und ein sanftes Gesicht. Keine harten Kieferknochen oder markanten Nasen. Würde er einen Anzug tragen, würde ich ihn glatt für einen Geschäftsmann halten. Neo blickt über seine Schulter und nickt ihm zu. »Starte den Wagen schonmal«, weißt er ihn an und wartet, bis wir wieder allein sind, um mir meine Frage zu beantworten. »Bald, cariño. Hab ein wenig Geduld und jetzt geh auf den Zimmer, du bist kein Gast in diesem Haus«, erinnert er mich und ich mache einen Schritt rückwärts auf die Treppe zu. Er speist mich immer nur mit leeren Versprechungen ab. Wann ist bei ihm bald? In einer Stunde, einem Monat oder einem Jahr? Jede Faser meines Körpers schreit danach, es herausfinden zu wollen. Was hat Diego mit mir vor? Was soll ich für ihn tun?
»Luella? Setz dich in Bewegung und Schluck die Pillen«, holt er mich grummelnd aus meinen Gedanken und macht auf dem Absatz kehrt. Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, eile ich die Treppenstufen nach oben in mein Zimmer. Er hat recht, ich bin wahrlich kein Gast in diesem Haus. Ich kann von Glück sprechen, das Ara seine Schwester ist, sonst läge ich schon längst in einer gescharrten Grube im Urwald. Ich habe Ara zu verdanken, das ich hier in Sicherheit bleiben darf. Im Schutz der vielen Gangmitglieder die die Mauer und das Tor beschützen. Die die Menschen beschützen. Ich weiß nicht was ich tun würde, sollte ich Hernández nochmal begegen müssen. Sucht er noch nach mir? Ich hoffe nicht. Aber der Kerl wird nicht aufgeben, ehe er mich gefunden hat. Ich hoffe, das dies niemals passieren wird. Hernández darf mich nicht in die Finger bekommen, sonst wird er mich töten. Da bin ich mir zu tausend Prozent sicher.

In meinem Zimmer quetsche ich eine Pille aus der Packung und schlucke sie mit Wasser hinunter, das ich aus der Flasche vom Nachttisch bekomme. Hoffentlich wirkt die Pille danach, sonst habe ich schon bald ein kleines Problem. Dafür hätte ich nun wirklich keine Nerven. Ich habe schon vor einer langen Zeit mit dem Gedanken abgeschlossen, Kinder zu bekommen. Es schien mir falsch zu sein, sie in einem Bordell aufziehen zu müssen. Ich wollte nicht, das sie so aufwachsen wie ich und mit anhören müssen, wie ihre Mutter mit Kerlen schläft, während die Kinder im Schrank sitzen und leise sein müssen, damit der Mann sie nicht hört. Ich habe heute noch Albträume von schmalen Räumen. Selbst mein Zimmer im Bordell hat mich einige Überwindung gekostet, weil es so klein ist. Ich kam eine Zeit nicht damit klar, wie eng alles wirkte.
Nun schlafe ich in einem fünf Sterne Hotel, kann man so sagen. Mit einem echten weichen Bett und einem Badezimmer ganz für mich allein, dazu ein Kleiderschrank, der so groß wie mein altes Bad war, ist. Als ich Ara heute Morgen bat einige Kleidungsstücke für mich zu kaufen, tat ich das allerdings nicht weil der Schrank leer ist, sondern weil alles was ich besitze, alt und abgetragen ist und Löcher hat. Ich schäme mich dafür, vor allem weil dieses Haus so pompös ist und mich darin wie eine Obdachlose aussehen lässt, obwohl ich das im Grunde genommen bin.

Mein Kopf hört nicht auf daran denken zu müssen, was ich für die Vipers tun soll. Was habe ich schon für Fähigkeiten? Im Haus ist es so still, das mir eine bescheuerte Idee kommt. Ich schleiche auf leisen Sohlen aus meinem Zimmer und widersetze mich so jeglicher Anweisung, die mir Neo gegeben hat. Vorn an der Treppe spähe ich aus den großen Fenster über der Haustür und sehe das nur noch ein Jeep in der Auffahrt steht, doch aus dem steigen gerade zwei Fremde, die die beiden Wachen am Tor ablösen. Mir entgehen die großen Maschinengewehre nicht, die ich bereits aus nächster Nähe kennenlernen durfte. Ich zweifle das sie ins Haus kommen werden. Also sollte die Luft für eine Weile frei sein.
Schleichend eile ich wieder tiefer hinein in den Flur und stoppe vor der großen Flügeltür, die aus altem Holz gefertigt wurde. Sie ragt kolossal vom Boden bis zur Decke und lässt mich ehrfürchtig nähertreten.

Ich strecke meine Hand aus, drehe den Knauf und schlüpfe hindurch ins Zimmer. Das hier muss sein Arbeitszimmer sein. Der Boden ist dunkles Massivholz, passend zum Schreibtisch und den alten Bücherregalen, die die Wand einrahmen, an dem es einen Kamin gibt. Der Typ lebt in Kolumbien und hat einen Kamin?
Ich lasse meine Fingerkuppen beim laufen über die Ledersessel fahren die vor dem Schreibtisch stehen, während ich mich beeindruckt umschaue. So viele Bücher... ob die alle schon gelesen wurden? Beeindruckt sinke ich auf den Drehtstuhl hinter dem Schreibtisch. Es gibt einen Computer direkt vor mir, einen Stiftehalter rechts daneben, links ein Bilderrahmen und eine Lampe. Verwundert greife ich nach dem goldenen Rahmen und wische den Staub vom Glas. Eine Familie ist darauf abgebildet. Seine?
Eine langhaarige wunderschöne Frau hält ein Baby. Daneben ein Mann, vor dessen Füßen ein kleiner Junge steht und in die Kamera grinst. Es sieht aus, als wäre das Foto auf einem Jahrmarkt geschossen wurden.
Ara sieht der Frau sehr ähnlich. Sie haben die selben Wangen und die selben Augen, von den Haaren ganz zu schweigen. Es ist als würde ich der älteren Version meiner besten Freundin entgegen schauen.
Und der kleine Junge der da vor den Füßen seines Vaters steht, er hat die selben stürmischen Augen wie Neo. Mein Daumen streift über sein Gesicht. Er wirkt unbeschwert und glücklich. Die Hand des Mannes liegt ihm auf der Schulter, der hinter ihm steht. Er hat kurze dunkle Haare und trägt ein lockeres weißes Hemd, eine Brille und einen Schnauzbart. Das sind Ara und Neos Eltern, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe. Ich stelle den Rahmen wieder an seinen Platz und lasse meine Augen weiter über den Tisch schweifen. Alles ist aufgeräumt und an seinem Platz. Neugierig öffne ich die rechte obere Schublade und ein paar Papierumschläge fallen mir ins Auge. Neugierig ziehe ich sie heraus, doch im gleichen Moment fällt die Haustür unten ins Schloss. Panisch stopfe ich alles zurück an seinen Platz und eile durch den Raum zurück zur Tür, presse mein Ohr dagegen und lausche. Ich kann keine Geräusche mehr hören. Das muss wohl nur im Erdgeschoss sein. Erleichtert öffne ich die Tür und schlüpfe rückwärts hinaus, halte den Knauf fest um die Tür so leise wie möglich zu schließen. Genau in dem Moment legt sich die kalte Klinge eines Messers an meine Kehle.

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