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LUELLA

Schluchzend wische ich mir über die nassen Wangen. Den ganzen Weg zurück habe ich gehofft, das es aufhören wird. Doch der Himmel weint mindestens genau so viel wie ich. Es ist kalt und stürmisch, dennoch stehe ich auf dem Balkon in Neos Schlafzimmer und schaue der hereinbrechenden Nacht zu. Wir haben seit Stunden nicht mehr miteinander gesprochen. Ich bin ihm dankbar, dass er mich an seiner Schwester vorbei gelotst hat und diese nicht weis, was geschehen ist. Ich brauche Zeit. Ich brauche Ruhe. Ich muss das verarbeiten können.
Ohne mich umdrehen zu müssen weis ich, das Neo hinter mir steht. Er wollte sich das Blut von den Händen waschen. »Willst du nicht reinkommen? Es soll Gewittern«, lässt er mich fragend wissen. Schniefend lege ich meine Hände an das eiskalte gläsernen Geländer, dass den Balkon einrahmt. »Hoffentlich trifft mich ein Blitz«, schluchze ich und atme tief ein. Es ist ein kläglicher Versuch mein Herz zu beruhigen. Es pocht noch immer stetig gegen meine Brust, als wolle es jeden Moment rausspringen.
»An was hast du gedacht, als ich mit Hernández beschäftigt war?«, will er wissen. Ich schweige. Seine nackten Füße berühren den Holzboden und er tritt neben mich. »Was hat er dir angetan?«, flüstert er rau und voller Verachtung für diesen Mann. Meine Augen ruhen auf meinen Händen. Ich schäme mich, für all das was passiert ist. Für damals und heute. »Luella«, murmelt der Anführer der Vipers und legt seine Hand auf meine Schulter. Ich zucke zusammen und Kralle meine Finger in die Glasbrüstung. Der kalte Regen vermischt sich mit den salzigen Tränen auf meinen Wangen. Ich stehe schon lang genug hier, um bis auf die Unterwäsche durchweicht zu sein. Noch dazu friere ich wie nie zuvor. Vielleicht sollte ich mich ihm anvertrauen. Ara kennt meine Geschichte und ich wünsche sie wäre jetzt hier, obwohl ich gleichzeitig froh bin, dass sie es nicht ist.
»Ich war fünfzehn«, beginne ich kaum hörbar. Der Regen schwemmt meine Stimme fort. Neos Hand ist so präsent auf meiner Schulter, das ich einen Moment innehalten muss, um mich zu sammeln. Sie spendet mir Kraft. Er spendet mir Kraft.
Meine Unterlippe bebt. »Ich war erst fünfzehn«, wiederhole ich wispernd und schüttle meinen Kopf. Stöhnend grabe ich meine Finger in meine Haare und schlage mir mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Ich will das es aufhört. Ich will die Gedanken zum schweigen bringen. »Luella!«
Neo reißt mich aus meinen Gedanken. Er packt meine Wangen und dreht mich zu sich, wehrt meine Hände ab, die nun auf seinen nackten Oberkörper eintrommeln. Ich habe mich bemerkt das er auch sein mit Blut getränktes Shirt losgeworden war. Weinend schlage ich auf ihn ein, fletsche die Zähne und stoße einen Schrei aus. Ich bin verzweifelt.
Der dunkelhaarige merkt das sofort. Er packt meine Hände und zieht mich an sich, klammert mich in seinen Armen fest, ohne jeglichen Ausweg. Wassertropfen perlen an seinem Oberkörper ab. Meine Schläge versiegen und Erschöpfung übernimmt die Oberhand. Ich lasse meine Arme schlaff fallen und lehne mich gegen seinen Körper. Schließe die Augen und schluchze leise vor mich hin. Sein Arm liegt um meinen Rücken und die andere Hand auf meiner Wange. Sein rauer Daumen streift über meine Haut. Ich reiche ihm nur bis zum Kinn, so stützt er es auf meinen Scheitel und hält mich. Ein tiefes seufzen entflieht ihm. Er schlingt seine Arme so fest er kann um mich, obwohl ich nicht in der Lage bin, es zu erwidern. Meine Beine sind wie Wackelpudding und ich fürchte dass sie jeden Moment nachgeben werden.
»Du bist viel stärker als dass. Lass nicht zu, das er dich bricht«, rät er mir wispernd. Seine Brust vibriert bei jedem seiner Worte. Mit zusammengekniffenen Augen drücke ich mich gegen ihn, als wäre er mein Rettungsboot.

Es vergeht eine Weile, in der wir beide klitschnass geregnet werden. Sein Herz pocht unter meinem Ohr gegen seinen Brustkorb, die Wärme die von ihm ausgeht ist unglaublich. Meine Tränen stoppen und ich schließe meine Augen. Ich kann nicht mehr. Die Kraft hat mich verlassen. Zaghaft hebe ich meine Arme und schlinge sie um Neos Rücken. Die letzte Träne berührt seine Haut und nur noch Regentropfen folgen. Es schüttet noch wie aus Eimern, aber sein Kopf über mir schirmt einen kleinen Teil ab. Ich fühle mich wohl in seinen Armen. Geborgen. Beschützt.
»Es tut mir so leid«, flüstert er in meine Haare, »so so leid. Niemand sollte das durchmachen müssen. Du hast das nicht verdient, Luella.«
Seine Worte sind so warm und voller Ehrlichkeit, das ich wie Butter in seinen Armen zerschmelze und mich an ihn schmiege wie an eine Heizung. Er ist so unglaublich warm. Seine Fürsorge erstaunt mich. Er kann so grob und herrisch sein, aber auch so sanft und lieb. Diese Seite mag ich an ihm am liebsten.
»Lass uns reingehen«, schlägt er vor und diesmal habe ich nichts einzuwenden. Fröstelnd nicke ich. Mir ist schweinekalt. Als wir das Schlafzimmer betteten tropfe ich wie ein nasser Pudel den ganzen Parkettboden voll. Ich wische mir die Tränen unter den Augen weg und höre wie Neo die Schiebetür schließt und den Regen aussperrt. »Komm«, murmelt er und läuft ins Bad voran. Gerade als ich ihm folge und an den bodentiefen Fenstern entlanglaufe, blitzt es das erste mal. Neo erhellt das Badezimmer mit den zwei Lampen neben dem Spiegel und streift sich seine Hose ab. Es donnert.
»Zieh das aus, sonst wirst du ein Eisblock werden, Luella«, rät er mir und befördert seine klitschnassen Sachen in den Wäschekorb. Auf der Unterlippe kauend zögere ich. Er steht splitterfasernackt vor mir, so wie Gott ihn schuf. Selbstbewusst und mit gehobenen Kinn betritt er die Dusche und dreht das Wasser auf. Die Kabine beschlägt, weil es so warm ist. Zögernd ziehe ich mich aus und folge ihm, weil er recht hat. Wenn ich weiter in diesen nassen Sachen rumlaufe werde ich erfrieren.
Ich steige zu ihm in die Dusche und schließe die gläserne Kabine hinter mir. Es ist angenehm warm im inneren. Neo überragt mich mühelos um einen Kopf. Ich trete dicht vor ihn und lasse mir das warme Wasser über den Kopf rinnen. Genüsslich schließe ich die Augen und spüre gleich darauf seine Finger an meiner Wange. Sie streicheln sie sanft entlang, von der Schläfe bis zum Kinn. »Du bist so wunderschön«, haucht er mir entgegen und ich glaube für einen Moment, dass ich mir dies nur eingebildet habe. Blinzelnd neige ich den Kopf in die Höhe und blicke direkt in seine sturmgrauen Augen. Sie fesseln mich, ziehen mich in ihren Bann als wären sie verwunschen. Ich könnte mich stundenlang von ihnen gefangen nehmen lassen. Ein zartes Lächeln umspielt meine Lippen. Ich schmiege meine Wange in seine Handfläche und unterbreche unseren Augenkontakt kein einziges Mal. Dieser Moment ist so intim und dass obwohl wir uns nur gegenüberstehen. Blicke sagen mehr als tausend Worte. Mehr als Millionen Berührungen. Ich kann die Fünkchen nicht leugnen, die zwischen uns im Wasserdampf umherfliegen. Wie Donner und Blitz.

Mutig trete ich einen Schritt nach vorn und schiebe meine Hand in seinen Nacken. Ich ziehe ihn zu mir hinunter und küsse ihn schüchtern. Wird er es erwidern? Ich hoffe es. Seine Lippen schmecken wie Honig und Zitrone zugleich.
Süß. Bitter. Leidenschaftlich.
Er öffnet sie und bewegt sie im Takt meiner. Seine Arme schlingen sich um mich und pressen unsere nackten Körper unter dem Wasserstrahl der Dusche aneinander. Kein Blatt würde mehr zwischen uns passen. Erst küssen wir uns zärtlich, dann verschlingen wir uns fast. Heiß, benebelnd, fordernd. Ich verliere fast den Verstand. Die Geschehnisse der letzen Stunden rücken in den Hintergrund und zerplatzen in der Luft wie Seifenblasen. »Diego«, stöhne ich in seinen Mund. Er küsst mich so intensiv, dass meine Beine zu Wackelpudding werden. »Sag es nochmal«, raunt er und drückt mich gegen die kalten Fließen. »Diego«, keuche ich und lege den Kopf in den Nacken. Der Viper liebkost meinen Hals entlang, saugt an meiner Haut und streift seine Finger meine Wirbelsäule hinab. All der Kummer und die Sorgen sind vergessen. Ich fühle mich, als würde ich auf Watte schweben. Genüsslich schließe ich meine Augen während das pochen zwischen meinen Beinen immer stetiger wird. Bald kann ich es nicht mehr ignorieren. Was es bei ihm auslöst, fühle ich. »Ich will, das du das gleiche tust wie gestern«, wispere ich in sein Ohr und schlinge meine Arme um seinen Hals. Er hadert. »Nein«, widerspricht er, »heute nicht. Du-«
»Ich bin nicht aus Glas. Bitte Diego, ich brauche das. Ich brauche dich und das Gefühl, das du mir gibst«, flehe ich ihn verzweifelt an und ziepe an seinen Haaren. »Luella, heute war-«
»Ich will es vergessen. Tausch meine Erinnerung mit einer Guten aus, dann ist dies das einzige, an das ich mich noch erinnern werde. Nur an dich und mich«, verspreche ich und vereine unsere Lippen erneut. Unsere nassen Körper reiben aneinander, fühlen und wärmen. Ich will es. Ich will ihn, aber vor allem brauche ich ihn. Er hadert mit sich, das sehe ich in seinen Augen. Wägt er ab, was er tun soll?
Herrisch lege ich meine Hände an seine Wangen und ziehe seine Aufmerksamkeit auf mich. Wasser tropft von den Strähnen seiner Haare auf meine Stirn. Es könnte mir nicht weniger egal sein.
»Ich will, das du mich fickst, Diego Martínez und wenn du es nicht tust, dann-«

Ich kann nicht weitersprechen, denn harsche Lippen pressen sich auf meine und sein Körper drückt mich fester gegen die Duschwand. Sein Knie schiebt sich zwischen meine Beine und ich lasse meine Finger seinen Nacken entlang gleiten. Es bedarf nicht vieler Worte, als er rückwärts auf die gemauerte Sitzbank sinkt, die es in der Ecke der Dusche gibt. Ich schwinge mich auf seinen Schoß und versuche mich irgendwo festzuhalten. Es ist so rutschig das die Tube Shampoo neben uns auf den Boden fällt. Ein kleines Kichern entflieht mir. Diego senkt seine Lippen auf mein Dekolleté und wandert wieder hinauf zu meinem Hals. Ich dränge die Luft aus meinen Lungen, als ich mich auf ihn sinken lasse. Seine Arme halten mich so eng an sich, das bei jeder Bewegung unsere nassen Körper aneinander reiben. Das Wasser prasselt von oben auf unsere Körper, hinterlässt einen warmen Schauer auf meiner Haut. Diego krallt seine Fingerkuppen in meine Hüften und stößt ein kehliges Stöhnen aus. »Ich habe gehofft, das du wieder du wirst«, keucht er. »Ich wollte, dass du ihn vergisst. Das du alles vergisst. Damals in der Gasse warst du perfekt. Du hast Widerworte gegeben und warst frech. Ich mag das, Luella. Niemand traut sich das sonst und nach einer Weile wird es langweilig, wenn jeder sich meinen Befehlen unterwirft. Du hast mich gereizt«, erklärt er gepresst. Schwer atmend küsse ich ihn wieder und bewege mich immer weiter. Ich hätte nie gedacht, das es sich so anfühlen könnte. So intensiv und wunderschön.
»Ich will nicht von hier weg«, wispere ich in seinen Mund, »ich will nicht von dir weg.«
»Dann musst du das nicht, wenn du nicht willst«, erwidert er und drückt mich tiefer auf seinen Schoß. Ich stöhne in unseren Kuss und er nutzt die Gunst der Stunde um seine Zunge in meinen Mund zu schieben. Ein Strudel aus Lust und Leidenschaft reißt mich mit sich und ich bin mir sicher, dass es nie wieder so wird wie früher. Ich will es. Ich will ihn. Nichts und niemand wird mir mehr in die Quere kommen. Ich bin frei, und ich will Diego.

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