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LUELLA

Erschrocken halte ich inne und spüre die Präsenz eines großen Mannes hinter mir. Er ist mir so dicht, das ich seinen Atem auf meinen Haare spüre. Verdammt, ich bin geliefert. Mein letztes Stündchen hat geschlagen. Das war's. Sie werden mich umbringen und meinen Körper irgendwo wie Müll entsorgen. Nichtmal Ara wird wissen, was mit mir geschehen ist. Niemand wird mich je finden.
»Hast du dich verirrt, cariño?«, dringt Neos raue Stimme in mein Ohr. Seine Lippen sind nur Millimeter entfernt. Als ich schlucke, bohrt sich das Messer ein Stückchen tiefer in meine Haut. »Nein ... ich, ich meine ja! Ja ich hab mich verlaufen«, stottere ich unbeholfen. Lüge ihm direkt ins Gesicht. Kalter Angstschweiß rollt mir über die Stirn. Neos Messer lässt von meiner Kehle ab, um über meinen Hals zu streifen. Er pinnt mich zwischen ihm und der Tür fest, ich kann ihn weder anschauen noch mich bewegen. Ich sitze in der Falle. »Weist du, was man mit kleinen neugierigen Häschen macht?«, fragt er und streichelt mit der kühlen scharfen Klinge meine Wange entlang. Ich kann nur beten, das er mich nicht für immer entstellen wird. Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es, den Anführer der Vipers nie zu unterschätzen. Er ist eine Schlange, und die haben viele Gesichter.

»Sag mir, cariño, was hast du dir von der Aktion erhofft?«, fordert er mich auf und sein heißer Atem prallt gegen meine Haut. »Ich... es tut mir leid«, krächze ich gegen das Türblatt. Die Klinge seines Messer streichelt mein Gesicht. Sie streift meine Stirn, die Wangen und meine Lippen, fährt hinunter zu meinem Kinn und landet unter meiner Kehle. Sein Körper lehnt sich gegen meinen, er schiebt sein Knie zwischen meine Schenkel. Ich bin ihm restlos ausgeliefert. »Bitte Neo, ich-«
»Halt die Klappe Häschen. Sonst rutsche ich noch ab und entstelle dein hübsches Gesicht für alle Zeit. Möchtest du das? Möchtest du ein kleines Andenken von mir?«, fragt er ernst und drückt meinen Körper gegen die Tür. Ich keuche als mir alle Luft aus den Lungen entweicht. »Nein, es tut mir leid«, wiederhole ich mich. Er lacht kaltherzig und dreht die Klinge auf meiner Haut. Ich spüre wie sie ein ziehendes Gefühl hinter meinem Ohr hinterlässt, bevor das Messer von mir ablässt. Panisch Taste ich meine Haut ab und fühle etwas warmes, das mir auf die Finger tropft. »Keine sorge cariño, das wird in ein paar Tagen wieder verschwunden sein, zumindest wenn du mir jetzt zeigst, was du da drin gemacht hast. Ich glaube nicht, das ich mich sonst noch länger beherrschen kann!«

Mit einem Ruck reißt er die Tür auf und schubst mich in sein Arbeitszimmer. Das Holz knallt ins Schloss und der Kolumbianer packt mich grob am Oberarm, um mich zu seinem Schreibtisch zu schleifen. Er drückt mich in den Stuhl, aus dem ich ihn mit klopfendem Herzen und großen Augen anschaue. Sein Gesicht ist vor Zorn zerfressen. Er schaut mir entgegen, hält die glitzernde Klinge des Messers in mein Sichtfeld, von dem mein Blut tropft. »Mach den Mund auf«, fordert er und mein Herz setzt aus. »Was?«, stottere ich und mir rinnt es eiskalt über den Rücken. »Mund. Auf!«, schnauzt Neo und packt mein Kinn, übt Druck auf meine Knochen aus und bringt meinen Kiefer dazu, sich zu öffnen. Widerwillig schaue ich zu, wie er die Messerspitze auf meine Zunge legt und grinst. Ich spüre das kalte Metall und frage mich augenblicklich, ob er dieses verdammte Messer je gewaschen hat, oder ob da noch die Blutspuren eines anderen drauf sind. Der Gedanke lässt mich fast würgen.
»Beweg dich nicht, sonst wirst du es bereuen«, rät er mir fies und seine Augen sprühen so viel Gift aus wieder Eckzähne einer Klapperschlange. Ich wage es keinen Finger zu krümmen. Es würde nur ein Millimeter reichen, um mir eine tiefe Wunde zuzufügen. Das ist krank. Was findet dieser Neo nur so an seinen Messerspielchen? Merkt er nicht, dass er mir eine Heidenangst einjagt, oder ist ihm das nur völlig gleichgültig?
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
»Schmeckst du das Eisen auf deiner Zunge, cariño? Das ist dein Blut. Schmeckst du es?«
Er starrt mich an wie der Teufel persönlich. Gott, wieso tut er das nur? Seine Klinge gleitet aus meinem Mund hinaus und er wischt sie sich an seinem Oberteil ab. Kaum ist sie in sicherer Entfernungen, schnappe ich nach Luft, als hätte ich zehn Minuten die Luft angehalten.
»Du zeigst mir jetzt ganz genau, was du dir angeschaut hat, sonst war's das für dich, Luella«, warnt er mich und klatscht zur Verdeutlichung seine flache Hand auf den Tisch. Zusammenzuckend senke ich meine Augen und deute auf die rechte obere Schublade, aus der ich vorhin die Dokumente gezogen hat.

Ruppig reißt er die Schublade auf und wirft das Messer zuvor achtlos auf einen der Sessel. Er kennt die Umschläge genau, die er mir gerade in die Hände drückt. »Aufmachen«, knurrt er und ich schaue ihn hilflos an. »Was?« Die Verwirrung in meiner Stimme ist nicht zu überhören. Neo stützt sich mit einer Hand an die Lehne des Stuhls, mit der anderen auf die Armstütze. Er kommt meinem Gesicht gefährlich nah und nickt auf die Umschläge in meinen Händen. Ich habe seine Worte unmissverständlich verstanden, doch trotzdem weigert sich jede Faser in mir, dem nachzukommen. Meine Augen huschen hinab zu seinem Gürtel. Unter seinem Shirt zeichnet sich die Kimme einer Pistole ab. Verdammt. Er wird sie ziehen wenn ich nicht langsam tue was er sagt.

Mit zitternden Händen taste ich die Lasche des ersten Umschlags ab und fummle ihn auf. Ich bekomme zwei Blatt Papier zu greifen, die ans Tageslicht kommen. Die Unterlagen wackeln in meinen zittrigen Händen wie Wackelpudding auf einem Löffel.
Die Blätter sind bedruckt von Anfang bis Ende. Auf dem zweiten Blatt wurde sowas wie eine Unterschrift unter den letzten Absatz gekritzelt. Starten tut der Brief mit einer Überschrift in dicken fetten Versalien. Ein mir unbekanntes Logo prägt die Ecke des Zettels.
»Lies vor was darauf steht«, fordert Neo und mir rutscht fast das Herz in die Hose. Schluckend starre ich auf die schwarze Tinte, versuche etwas aus meinem Mund zu bringen.
»Ich... ich kann das nicht«, wispere ich unsicher und er stößt ein böses Knurren aus, packt mein Hinterkopf und drückt ihn nach unten, dem Blatt ein bisschen näher. »Brauchst du eine verfickte Brille? Oder stellst du dich so dumm?«, feixt er und ich wimmere auf als ich seine feste Hand in meinem Nacken spüre. Sie gräbt sich in mein Fleisch und wird Spuren hinterlassen.
»Nein ich, ich kann nicht lesen!«, beteuere ich und gebe zum ersten Mal meine größte Schwäche zu. Nichtmal Ara kennt sie. Ich schäme mich einfach zu sehr dafür. Ich kenne niemanden, der mit Mitte zwanzig nicht lesen oder schreiben kann. All die Jahre hat es im Bordell geklappt meine schwäche zu verdrängen, weil wir weder Telefone noch ein anderes Kommunikationsmittel besaßen. Allein die Geldscheine kann ich lesen, das musste ich lernen damit die Kunden mich nicht über die Ohren hauen. Aber abgesehen davon bin ich nicht fähig auch nur ein einziges Wort zu lesen oder zu schreiben. Ich weiß nichtmal, wie mein Name eigentlich aussieht.
»Ich... ich kann nicht lesen«, wiederhole ich meine Worte wispernd und schließe die Augen, um nicht zu weinen.
Bleib stark Luella, bleib stark.
Neos Hand verschwindet plötzlich von mir und keine Sekunde später reißt er mir die Blätter aus den Fingern.
»Nationalgericht von Kolumbien«, knurrt er plötzlich und als ich aufschaue, merke ich das er vom Papier abliest. Wieso tut er das? Wieso liest er mir vor, was darauf steht, wenn er so sauer ist, das ich es in den Händen hatte? Ich werde diesen Mann nicht verstehen. Vielleicht werde ich das nie. Weder seine Motivation noch seine Gefühle. Es ist als würde er mich nur das sehen lassen, was für ihn entbehrlich ist. Mag sein das ich falsch liege, denn das hier hört sich nach etwas an, das ihm wichtig ist.
»Ihr Antrag auf Freilassung des Beschuldigten im Straffall 2039 vom Gefangenen Juan Martínez wurde vom Nationalgericht in Bogotá als nichtig erklärt. Bis zum Prozess verweilt der Inhaftierte im Cárcel Distrital in Bogotá, ohne die Option auf Bewährung.«

Neo strotzt nur so vor blankem Zorn. Er spuckt die Worte aus als wären sie Gift, das er versucht aus seinem Mund zu bekommen. Im Moment rattern tausend Rädchen in meinem Kopf. Juan Martínez? Aras Nachname ist Martínez, also gehe ich davon aus, das Neo ebenfalls so heißt. Bedeutet das dann, dass dieser Juan ihr Vater ist? Ich weiß nichts über seine Familie. Ara sprach nie über ihre Eltern oder ihren Bruder, ich wusste ja vor kurzem nichtmal, das sie einen hat.
Der Vater der beiden sitzt also im Gefängnis, hier in Bogotá. Über das wieso kann ich nur spekulieren.
»Wieso hast du mir das vorgelesen?«, hake ich mit dünner Stimme nach und schaue hinab auf die Zettel, die er auf den Schreibtisch gepfeffert hat. »Wieso?«, keift er stinkwütend, packt mit seiner Hand mein Kinn und reißt es gewaltsam nach oben. Ich bin gezwungen ihn nun anzuschauen. Seine Iriden graben sich tief in die meine, stechen wie zwei spitze Dolche zu.
»...du wolltest doch wissen, was deine Aufgabe sein wird, oder cariño?«

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