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LUELLA

Die Nacht ist hereingebrochen als Neo mich in seinen Jeep befördert und wir die Villa und die umliegenden Ländereien verlassen. Es geht eine Weile bergab, weshalb ich vermute das er in die Stadt fährt. Wieso oder wohin es geht, weiß ich nicht. Er hat nicht ein Ton von sich gegeben, seit er mich im Arbeitszimmer erwischt hat. Nicht mal mit seiner Schwester sprach er, als sie ihn fragte, wohin es geht. Es ist ein komisches Gefühl nichts zu wissen. Ich sollte es schon gewohnt sein, aber jedes Mal aufs Neue wird mein Magen flau, wenn ich ins Ungewisse fahre. Zum ersten Mal sehe ich die Stadt aus einer anderen Perspektive. Santa Fé ist weit entfernt und doch so nah, dass es mir einen Schauer durch die Knochen jagt. Aber vielleicht liegt das auch am Fahrtwind, der uns durch die offenen Fenster um die Ohren wirbelt.

Die Stadt ist belebt, aufgeweckt und laut. Trotz, dass die Sonne bereits dem Mond gewichen ist, laufen die Menschen durch die Straßen und scheinen ausgelassen zu sein. Normalerweise würde ich nun meine Schicht im Bordell beginnen. Zum ersten Mal Kreuzt ein Gedanke meinen Kopf. Was, wenn Hernández seine Hyänen nach mir geschickt hat. Er hat Männer in der ganzen Stadt und ich weiß, dass der Kreis der Menschenhändler groß ist. Es gibt genug Orte und Personen, an den er meine Infos verteilen kann. Das letzte Mädchen, das abgehauen ist, haben sie auch wiedergefunden. Ich will gar nicht wissen was die mit dem armen Ding gemacht haben. Zumindest habe ich sie nach dieser Nacht nie wieder zu Gesicht bekommen.
Das Straßenleben im Rest der Stadt ist so anders als das in Santa Fé. Während dort die Straßen von Freiern geprägt sind, laufen hier sogar junge Frauen wie ich durch die Stadt, die nicht ihren Körper verkaufen müssen. Sie Leben in dieser Welt, besser als die Frauen, mit denen ich all die Jahre zusammengelebt habe, und doch sind wir uns so ähnlich. Mindestens fünf von ihnen werden den Menschenhändlern zum Opfer fallen. Noch laufen sie sorgenfrei durch die Straßen, doch ich bin felsenfest überzeugt, dass mindestens eine von ihnen meinen Platz bei Hernández einnehmen wird. Das ist es, was diese Stadt am Leben hält. Menschenhandel, Prostitution und das illegale beschaffen von Drogen.

So fasziniert von den Menschen und Straßen, die wir passieren, merke ich vorerst nicht, das Neo den Jeep in einer dunklen Seitengasse parkt und den Schlüssel aus dem Zündschloss zieht. »Endstation, Steig aus«, weist er mich an und langt mit einer Hand ins Handschuhfach vor meinen Knien. Zum Vorschein kommen zwei Tücher, nein, fast schon Masken. Er steckt sie sich in die Jackentasche und deutet mir, dass ich meinen Arsch aus dem Wagen schwingen soll. Mein Herz pocht wie wild als ich seiner Forderung nachkomme und auf den dreckigen Asphalt rutsche. Die dunkle Gasse weckt Erinnerungen auf unser erstes Aufeinandertreffen. Genau wie damals sind mir die düsteren Ecken der Stadt nicht geheuer. Ich bin froh als er Anstalten macht, loszulaufen, selbst wenn ich nicht weiß, wohin es geht. Alles scheint mir im Moment besser zu sein als weiter in dieser Gasse zu schmoren.
»Was wolltest du mir zeigen?«, frage ich neugierig und hole mit großen Schritten auf. Neo schließt seine schwarze Jacke vor der Brust und schiebt die Hände in die Taschen. »Geduld«, sagt er und speist mich so ab. Er lenkt mich aus der Gasse hinaus in die besuchten Straßen. Laternen reihen sich aneinander und werfen kegelförmige Lichter auf den Asphalt. Wir biegen rechts ab und folgen ein paar Menschen. Nach zehn Minuten folgt eine weitere Kurve und plötzlich befinden wir uns auf einem riesigen Platz voller Menschen. Gott, in meinem Leben habe ich noch nie so eine große Masse gesehen. All die Menschen haben sich weswegen hier versammelt? Es ist Laut und einige halten Schilder in die Luft. Doch ich kann nicht schließen, was das hier sein soll.

Neo packt meine linke Hand und schleift mich an den Menschen vorbei quer durch die Masse. Je näher wir dem Geschehen kommen, desto lauter und enger wird es. Schulter an Schulter reibe ich bei jedem Schritt gegen den Kolumbianer. Diese Masse ist mir nicht geheuer. Lautsprecher stoßen eine männliche Stimme aus, die das Wüten der Menschen nur anfacht. Sind sie sauer?
Unsicher bleibe ich stehen und rempele Neo fast um. »Tut mir leid«, entschuldige ich mich. Der Kopf der Vipers murmelt nur etwas und hebt seinen Arm. Er legt ihn um meine Schultern und zieht mich enger, damit ich nicht in der Menge untergehe. Mir wird ganz warm von seinen Berührungen, aber die Person, zu der die Menschen sich gewendet haben, erhascht meine Aufmerksamkeit.

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